Eine feministische Internationale im Werden?
Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski
(Im Auftrag von Widerspruch, Redaktionsschluss Januar 2020)
25. November 2019, es ist der internationale Tag gegen Gewalt gegen Frauen. Über hundert Frauen bauen sich vor dem Präsidentenpalast in Santiago de Chile auf, ihre Augen sind mit einem schwarzen Tuch verbunden, die Köpfe aufgerichtet, die Gesichter starr. Im Rhythmus ihrer stampfenden Beine und anklagenden Handzeichen beginnen die Frauen zu rufen: „Das Patriarchat ist ein Richter, der uns für unsere Geburt verurteilt. Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du jetzt siehst. […] Der Vergewaltiger bist Du.“[i] – in den folgenden Tagen verbreitete sich die Performance der feministischen Gruppe LasTesis nicht nur im Netz, sondern wurde auch von Frauen weltweit adaptiert; von Mexiko über Mozambique nach Tschechien, von Indien über die USA bis ins türkische Parlament. Dabei wurde der Text im spanischen Original verwendet, übersetzt, ergänzt. Die Botschaft war jedoch überall dieselbe. Es geht um männliche Gewalt gegen Frauen, um die zugrundeliegenden Strukturen von Herrschaft und Unterdrückung, um staatliche Ignoranz. Auch wenn sich die nationalen Ausprägungen der Gewalt gegen Frauen unterscheiden mögen, handelt es sich um ein globales Phänomen. Die Performance – selbst in ihrer poetischen, insofern kodierten Weise – sprach deshalb die kollektive Erfahrung feminisierter Körper weltweit an. Auch zahlreiche andere Themen, wie etwa das umkämpfte Recht auf Schwangerschaftsabbruch oder eine zunehmende Prekarisierung von bezahlten wie nicht bezahlten Reproduktionstätigkeiten, werden über Grenzen hinweg geteilt. Dass sich in den letzten Jahren feministische Kampagnen vermehrt transnational ausweiten – von den „women’s marches“ über #metoo bis zum feministischen Streik – geht jedoch weit über eine thematische Übereinstimmung hinaus. Einzelne Aktionen geben die Möglichkeit, sich an einer weltweiten Bewegung zu beteiligen, auch wenn die Strukturen vor Ort noch schwach sind. Sie senden Impulse und Inspiration, aber sie erzeugen nicht erst etwas, wo vorher nichts war. Die aktuelle Mobilisierungskraft der Proteste entsteht durch ein sich selbst verstärkendes Wechselspiel aus lokalem Kontext und einer transnationalen Bewegung, mit zahlreicher werdenden Verknüpfungen und Aktivitäten. Damit der Funke von heute nicht wieder verpufft, wäre dennoch mehr Koordination nötig – aber ist sie auch möglich?
Verortungen einer transnationalen Bewegung
Eine Reihe massiver Demonstrationen in Argentinien, die im Jahr 2015 international Beachtung fanden, können als erster Impuls der neuen transnationalen Vernetzung feministischer Bewegungen gelesen werden. Auch hier stand die zunehmende Gewalt gegen Frauen im Zentrum. Als Reaktion auf einen besonders brutalen Femizid bildete sich das Kollektiv NiUnaMenos, das hunderttausende Menschen gegen Gewalt an Frauen mobilisierte. Seither wurde die Initiative nicht nur in einer Vielzahl anderer Länder aufgegriffen, sondern gab Anstoß zu einer feministischen Streikbewegung, die weitere feministische Konfliktfelder miteinbezieht. Dabei wird der Streik als klassisches Instrument der Arbeiter*innenklasse sowohl auf die unentlohnte Haus- und Sorgearbeit ausgeweitet als auch auf die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Tätigkeiten von Frauen und Queers stattfinden. Die Mobilisierungskraft, die der Streik besonders in Argentinien entwickelte, kann auch auf die neue Weise zurückgeführt werden, wie die individuell-körperlichen und abstrakt-ökonomischen Gewalterfahrungen praktisch miteinander verbunden wurden: Eine oft abstrakte Gesellschaftskritik verknüpfte und konkretisierte sich im Kampf gegen die gewaltvollen Alltagserfahrungen von Frauen und Queers (Gago 2019).
Was in Argentinien ebenfalls gelang, war eine Verbindung von Massenmobilisierungen und einer Radikalität, die sich nicht nur auf die Aktionsformen des Streiks und des zivilen Ungehorsams bezieht, sondern auch auf die Forderungen der darin verbundenen Kämpfe (ebd.). Erklärt werden kann dies zu einem Teil sicherlich durch die Zuspitzung der Konflikte eines autoritären Neoliberalismus, die weltweit immer weitere Bevölkerungsgruppen und dabei insbesondere Frauen in die Enge treiben (Wolter / Wischnewski 2019). Dennoch sind die sozialen Zerwürfnisse und die politischen Felder in den jeweiligen Ländern unterschiedlich ausgeprägt. Während etwa in Argentinien heute 35 Prozent der Bevölkerung in Armut leben (INDEC 2020), sind dies in Deutschland mit rund sechzehn Prozent weniger als halb so viel (BMAS 2018). Radikale Forderungen nach Enteignung sind in Deutschland nur deshalb so populär, weil ein immer größerer Anteil der alten Mittelklasse unter steigenden Mieten leidet. Radikalität funktioniert nicht einfach als Blaupause, sondern braucht eine jeweils spezifische Form. Eine solche Forderung muss für den Feminismus in Deutschland deshalb erst noch gefunden werden.
Vor diesem Hintergrund sind auch die aktuellen Debatten in Spanien zu verstehen. Nach zwei sehr erfolgreichen feministischen Streiks am 8. März steht zur Diskussion, welche neuen Formen gefunden werden können, damit der Streik nicht schon bald zu einer jährlichen Tradition verkommt. Für 2020 wurde in Spanien nicht zum Streik aufgerufen. Ersichtlich wird daran auch, dass der Streik derzeit zwar das wohl bedeutendste Instrument der feministischen Bewegungen ist, es aber langfristig nicht dabei bleiben muss.
Neben der Radikalität prägen Kreativität und Vielfalt die Bewegungen, weil dem feministischen Streik nicht durch Statute vorgegeben ist. „Was ist dein Streik?“ fragte das feministische Kollektiv Precarias a la deriva schon vor einigen Jahren. Die komplexen Zusammenhänge, an denen angesetzt wird, bieten eine Vielfalt an Interventionsmöglichkeiten und durch die Debatte um Intersektionalität gibt es dafür heute ein wesentlich größeres Bewusstsein. Wir wissen, dass die Verschränkung verschiedener Herrschaftsverhältnisse von Herkunft, Geschlecht und sozialer Klasse jeweils spezifische Betroffenheiten und Ausschlüsse, aber auch Handlungsmöglichkeiten erzeugt. Der Streik muss und kann deshalb an jedem Ort neu erfunden werden.
Ausdruck und Kraft der feministischen Bewegungen sind aber nicht nur deshalb regional unterschiedlich ausgeprägt. Häufig konzentrieren sich Aktivitäten auf die Städte. In Spanien z. B. ist es jedoch gelungen, den feministischen Streik in der Fläche auszudehnen, sodass sich selbst Frauen in kleinen Dörfern am Streik beteiligt haben. Wie wurde das möglich? Einerseits wohl deshalb, weil in Spanien die großen feministischen Mobilisierungen der vorangegangenen Jahre – 2014 verhinderten Frauen eine Verschärfung der Abtreibungsgesetze, 2015 stießen Social-Media-Kampagnen und Demonstrationen eine gesellschaftliche Debatte über Gewalt gegen Frauen an – bereits die nationale Presse bestimmt hatten; andererseits weil an Partizipationsformen gearbeitet wurde, an denen sich auch Frauen in kleinen Städten beteiligen konnten. Als Zeichen ihrer Anteilnahme konnten Frauen etwa auch Küchenschürzen aus dem Fenster hängen, eine Aktion, die keine weiteren Strukturen benötigte.
Wenn schon innerhalb eines Landes die konkrete Ausgangssituation von Frauen unterschiedlich sind, so werden die Differenzen noch auf internationaler Ebene noch vielfältiger. Denn jeder Ort ist von einem komplexen Geflecht aus politischer Kultur, Konjunktur, Ausbeutungsverhältnissen und Geschichte geprägt. Das heißt, wie Frauen und Queers an den jeweiligen Orten reagieren und welche Effekte das wiederum auf die lokalen Akteur*innen und Verhältnisse hat, liegt sehr stark an den unterschiedlichen Ausgangslagen in verschiedenen Regionen und ihren Eigendynamiken. Bewegungen können deshalb nicht einfach kopiert werden.
Think GLOBAL, act LOCAL
Nehmen wir Deutschland als Beispiel. Ein feministischer Streik wurde bereits in den Jahren vor dem ersten Aufruf für 2019 in verschiedenen Bündnissen diskutiert. Vor dem Hintergrund einer zwar wachsenden, aber noch schwachen bundesweiten feministischen Bewegung wurde er jedoch als unrealistisch verworfen. Erst als die Bilder aus Spanien von der Beteiligung von Millionen am feministischen Streik nach Deutschland schwappten, wurde die Arbeit aufgenommen. Allerdings nicht aus dem Nichts: Die Initiative wurde maßgeblich von jenen Kollektiven ergriffen, die bereits in den vergangenen Jahren die Demonstrationen und Aktionen in verschiedenen Städten rund um den 8. März organisiert hatten.
Dennoch hatte es in Deutschland seit 1994 keine erwähnenswerten größeren feministischen Proteste gegeben. Damals fand unter der Beteiligung von schätzungsweise einer Million Frauen der erste Frauenstreik in Deutschland statt. Zentrale Forderungen des damaligen Protests – z. B. die Entkriminalisierung von Abtreibungen – wurden nicht umgesetzt. Die Bewegung zerbrach anschließend an den unterschiedlichen Vorstellungen ihrer Akteurinnen und machte akademischen und institutionellen Auseinandersetzungen Platz. Ein neuer Anlauf sichtbarer feministischer Proteste setzte erst vor wenigen Jahren ein. Aber nicht nur im Feminismus ist die deutsche Streik- und Protestgeschichte abgebrochen. Große Proteste– wie gegen den Irak-Krieg oder das Freihandelsabkommen TTIP – stellten lange eine Seltenheit dar, Generalstreiks gibt es gar nicht erst. Betriebliche Streiks finden seit dem zweiten Weltkrieg im engen und kontrollierten Rahmen des Tarifrechts statt und nahmen lange kontinuierlich ab. Erst in jüngster Zeit ändert sich dieser Trend – sei es bei den großen #unteilbar- oder Fridays-for-Future-Demonstrationen oder bei den betrieblichen Streiks (ZEIT 2019), gerade in frauendominierten Branchen (Artus 2019, 10).
Auch wenn das hoffen lässt, ist man in Deutschland aus diesen Gründen mit dem feministischen Streik an einem anderen Punkt der Entwicklung als in Argentinien. Dort finden seit über dreißig Jahren plurinationale Treffen von Frauen und Queers statt, an denen große Kampagnen ihren Resonanzraum finden. Für die Verbindung von unterschiedlichen Perspektiven waren in Argentinien z. B. auch die „asambleas“ von besonderer Bedeutung, die eine lange Tradition haben.[ii]
Diese lokalen Spezifika zeigen: Die Internationalisierung der feministischen Bewegungen wirft Fragen auf, die lokal beantwortet werden müssen. Für den weiteren Aufbau der feministischen – ja, der Proteste insgesamt in Deutschland, wäre deshalb die Frage interessant, an welche vergleichbaren Organisierungstraditionen hier angeknüpft wird – oder werden kann. Die Antwort auf diese Frage gehört zu den Voraussetzungen für das Wachsen der Proteste in einem Land und damit für eine mögliche internationale Koordination der feministischen Bewegungen insgesamt.
Herausforderungen für eine feministische Internationale
Aktuell stehen allerdings die gegenseitige Inspiration und das solidarische Aufeinander-Bezug-Nehmen zwischen den Bewegungen im Vordergrund. Das ist nicht zu unterschätzen. Gemeinsamkeiten zu finden, Allianzen zu gründen, wirklich solidarisch zu sein, das ist notwendig, um nicht nur einzelne Identitäten voneinander abzugrenzen. Im Zuge der Intersektionalitätsdebatte waren lange Jahre Bewegungen an vielen Orten der Welt notwendigerweise davon geprägt, die Differenzen zwischen Frauen* herauszuarbeiten und sich damit gegen eine Anrufung zu stellen, die letztlich nur die Realitäten und Forderungen weißer Mittelschichtsfrauen meinte. Dazu zählen etwa Bewegungen von Trans- oder Schwarzen Frauen. Heute werden der Wunsch und die Dringlichkeit wieder stärker, auch das Gemeinsame zu suchen und zu stärken, ohne dabei die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, also ohne die Differenzen unsichtbar zu machen. Durch diese Bezüge entsteht ein offenes, aber immer dichter werdendes Netz, in dem Ideen, Argumente, Formen ausgetauscht werden.
Eine Herausforderung besteht darin, dass diese Konstellation zum Teil auch die Spaltungen der Weltgemeinschaft reproduziert, weil internationale Treffen und Aktivitäten von westlichen Geldgebern abhängig sind oder auf den von diesen geschaffenen Kontakten beruhen. Es ist kein Wunder, dass der direkte Austausch zwischen afrikanischen und lateinamerikanischen Feministinnen bisher noch sehr schwach ist. Umso interessanter ist, dass die Impulse für die feministischen Bewegungen derzeit von Ländern des globalen Südens und den peripheren Staaten Europas ausgehen. Frauen in den ökonomischen Zentren des globalen Nordens sollten sie auch dafür nutzen, um in ihren Ländern direkten Druck auf die Nutznießer*innen einer hierarchischen Weltordnung auszuüben.
Wenn die Türkei mit aus Deutschland gelieferten Waffen einen Krieg gegen die Kurd*innen in Nordsyrien führt oder europäische Firmen in Lateinamerika Extraktivismus betreiben, dann reicht lokaler Widerstand nicht aus. Auch die Flucht- und Migrationsbewegungen drängen auf transnationale Kämpfe. „Das Recht zu bleiben“, lässt sich nicht allein vor Ort erstreiten, sondern ist von einem ungerechten Welthandel ebenso abhängig wie von den Folgen des durch westliche Industrien befeuerten Klimawandels. Viele Herausforderungen, denen die Menschen heute gegenüberstehen, sind global und auch wenn sie national unterschiedlich ausgeprägt sind, lassen sich Antworten darauf nur mittels einer grenzüberschreitenden Perspektive finden.
Für den Moment bedeutet dies vor allem, miteinander in Kontakt zu bleiben, voneinander zu lernen, miteinander weiterzudenken. Denn nur wenn die globalen Zusammenhänge erkannt und als eigene Betroffenheit und Verantwortung erfahren werden, können sie wirklich mobilisierend im Alltag wirken. Die internationale feministische Bewegung befindet sich in einem Bildungsprozess, der sich sowohl lokal als auch global neu formiert. Anders als in der Sozialistischen Fraueninternationale zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestehen die heutigen Verbindungen nicht zwischen Parteien oder anderen festen Organisationen mit Delegiertensystem und Satzungen, sondern als lose Netzwerke zwischen Bewegungen und Bündnissen, meist ohne starre Struktur. Unter dem Namen ELLA finden seit einigen Jahren Treffen von lateinamerikanischen Feministinnen statt, nach dem Frauen*streik in der Schweiz gab es die erste Einladung zu einer Zusammenkunft europäischer Aktivistinnen in Genf. Vieles findet über soziale Medien und Chat-Gruppen statt.
Diese Offenheit ist eine Stärke der Bewegung, da so der Vielfalt Ausdruck verliehen werden kann und eine niedrigschwellige Beteiligung von Frauen überall ermöglicht wird. Andererseits drohen Bewegungen ohne transparente Strukturen schnell undemokratisch zu werden oder wenig nachhaltig zu sein. Das gilt jedoch ebenso für die lokalen Strukturen. Diese zu schaffen, ohne Differenzen und Vielfalt unsichtbar zu machen, und sie auf internationaler Ebene zu konsolidieren, wird die große Herausforderung für die internationale feministische Bewegung.
Literatur:
Artus, Ingrid, 2019: Frauen*-Streik! Zur Feminisierung von Arbeitskämpfen.
BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2018: Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung.
Gago, Verónica, 2019: Eight Theses on the Feminist Revolution.
Eight Theses on the Feminist Revolution(Abfrage 15.01.20)
INDEC – Instituto Nacional de Estadísticas y Censos, República Argentina, 2020. https://www.indec.gob.ar/indec/web/Nivel3-Tema-4-46 (Abfrage 15.01.20)
Precarias a la deriva, 2014: Was ist Dein Streik? Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität.
Triguboff, Matías, o.J.: Asambleas populares en la Argentina: procesos sociales y prácticas políticas tras la crisis de 2001. https://www.centrocultural.coop/revista/13/asambleas-populares-en-la-argentina-procesos-sociales-y-practicas-politicas-tras-la (Abfrage 15.01.20)
Wischnewski, Alex / Wolter, Kerstin, 2019: Eine feministische Internationale. Wie sich Frauen über Grenzen hinweg organisieren. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/eine-feministische-internationale-wie-sich-frauen-ueber-grenzen-hinweg-organisieren/ (Abfrage 15.01.20)
ZEIT, 2019: Zahl der Streiktage deutlich
gestiegen. https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-03/streiktage-2018-arbeitskaempfe-tarifkonflikte-metallindustrie
(Abfrage 15.01.20)
[i] „El patriarcado es un juez, que nos juzga por nacer, y nuestro castigo, es la violencia que ya ves. (…) El violador eres tu”, eigene Übersetzung.
[ii] Asambleas gewannen insbesondere während der Wirtschaftskrise 2001/2002 grosse Bedeutung (Triguboff o.J.).