Die Krise hat ein Geschlecht

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Zehn Jahre nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers gilt Deutschland weithin als »Krisengewinner«. Bei einem oberflächlichen Blick auf die Statistiken stimmt das auch. Doch wenn wir genauer hinschauen, bröckelt dieses Bild. Die Krise hat den Boden unter unseren Füßen weiter ausgehöhlt – und sie hat ein Geschlecht.

Der neoliberale Umbau der Arbeitswelt hat Millionen Menschen in Teilzeitjobs, Befristungen, Minijobs, niedrige Löhne und Armut getrieben. Krisengewinner sind diese Menschen bestimmt nicht. Doch noch weniger sagt der Titel über die Auswirkungen der Krise auf die entlohnten und nicht entlohnten Reproduktionsarbeiten aus, also jene Tätigkeiten, die direkt am Menschen verrichtet werden – wie Pflege und Erziehung. Obwohl ohne sie die Produktion von Waren gar nicht möglich wäre, wird kein Wert auf sie gelegt, wenn es um die Ankurbelung des Marktes geht. Schließlich werde nur reproduziert. Etwas Benutztes wird also wieder in den vorherigen Zustand zurückversetzt. Ein schräges Bild, wenn man allein an das Aufziehen von Kindern denkt. Die Philosophin Frigga Haug nennt diese Tätigkeiten deshalb die Sphäre der »Produktion des Lebens«.

Das deutsche Krisenmanagement zielte ab 2008 ausschließlich auf den Schutz der kapitalistischen Warenproduktion. Dabei ging es immer nur um die Absicherung von Profiten, nicht um die Absicherung des Lebens selbst, geschweige denn ihrer Produzenten und Produzentinnen. Und die sind immer noch mehrheitlich Frauen. Sie übernehmen noch immer den allergrößten Teil der (bezahlten wie unbezahlten) Erziehungs-, Pflege- und Hausarbeit. Trotz der insgesamt positiven Leistungsbilanz, mit der Deutschland durch die Krise kam, explodierten 2009 die Staatsschulden infolge kurzfristig aufgelegter Konjunkturprogramme. Wobei Abwrackprämie und Kurzarbeitergeld in erster Linie männliche Arbeitsplätze sicherten. Wen die Krise am stärksten trifft, erklärt sich also nicht allein aus der Krise selbst, sondern aus ihrer politischen Regulation.

Die Antwort auf die Schulden waren wie überall austeritätspolitische Maßnahmen. Diese wurden Deutschland jedoch nicht als Schocktherapie durch die Troika aufgezwungen, wie anderen europäischen Ländern, sondern beschleunigten lediglich einen langfristigen Trend. Kürzungen und Privatisierungen der öffentlichen Infrastruktur wurden zur politischen Leitlinie und fanden schließlich über die Schuldenbremse ihren Weg ins Grundgesetz. Davon sind Frauen gleich doppelt betroffen: Zum einen sind vor allem in den Sorgeberufen mehrheitlich Frauen beschäftigt (in der Pflege sind es etwa 85 Prozent), zum anderen übernehmen Frauen den steigenden Anteil der privat zu leistenden Daseinsvorsorge. Und das trotz stetig wachsender Erwerbstätigkeit, die jedoch gleichzeitig unsicherer wird.

Heute sind nur ein Drittel aller Vollzeitstellen von Frauen besetzt, während sie bei den Teilzeitstellen 80 Prozent stellen und zwei Drittel der ausschließlich im Minijob Beschäftigten. Seit 2008 hat diese Entwicklung besonders migrantische Arbeiterinnen getroffen. Ihr Anteil an Minijobs ist besonders stark gestiegen – mit fatalen Folgen für ihre eigenständige Existenzsicherung.

Die sich durch die deutsche Austeritätspolitik verfestigende soziale Ungleichheit geht also überwiegend auf Kosten von Frauen. So viel zur Erzählung des deutschen »Krisengewinners«. Doch Frauen geben sich mit der Rolle des Opfers vielerorts nicht zufrieden. Sie streiken für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal in der Pflege, gehen auf die Straße für bessere Tarife in den Sozial- und Erziehungsberufen und setzen sich den von der Krisenpolitik der Regierung profitierenden Rechten entgegen – ob in der Flüchtlingssolidarität, auf den Demos gegen Gewalt an Frauen oder bei den Protesten gegen die Lebensschützer*innen. Frauen sind die natürlichen Feinde von Austerität und autoritärer Rechte. Und sie haben eine mächtige Waffe. Ohne ihre sichtbare und unsichtbare Arbeit würde keine einzige Ware mehr produziert werden.

»Wenn wir streiken, steht die Welt still«, war nicht umsonst das Motto des feministischen Streiks in Spanien dieses Jahr. Die Tätigkeiten von Frauen und damit das Leben ins Zentrum unserer Politik zu rücken, heißt nichts anderes, als an der Überwindung des Kapitalismus zu arbeiten. Die jetzt begonnene Organisierung eines Frauen*streiks am 8. März 2019 und darüber hinaus ist der nächste Schritt.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 01.11.2018

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