Femi(ni)zide in Deutschland – ein Perspektivwechsel

Von Alex Wischnewski. In: Femina Politica 2/2018, S. 126-134.

Frauenmorde sind kein neues Phänomen, sondern so alt wie das Patriarchat selbst (Radford/Russel 1992). Und doch erhielt es in jüngster Zeit international neue Aufmerksamkeit. Auslöser dafür war der Mord an der argentinischen Schülerin Chiara Paéz im Mai 2015. Ihr Freund erschlug die 14-Jährige, weil sie keine Abtreibung vornehmen lassen wollte, und vergrub sie mit Hilfe seiner Familie im Garten. Daraufhin bildete sich „ni una menos“ („Nicht eine weniger“), ein Kollektiv von Journalistinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen, das am 3. Juni 2015 hunderttausende Menschen gegen Frauenmorde mobilisierte, sowohl in den sozialen Medien als auch auf der Straße. Seither hat sich die Bewegung nicht nur verstetigt, sondern wurde in einer Vielzahl anderer Länder aufgegriffen, insbesondere in Lateinamerika – darunter in Chile, Peru oder Mexiko – aber auch in Spanien, Italien („non una di meno“) oder Albanien. Auch wenn die Proteste 2015 als ein qualitativer Sprung in der Thematisierung von Frauenmorden aufgefasst werden können, stützt sich die Bewegung auf eine bereits Jahrzehnte andauernde Debatte in den Sozialwissenschaften und feministischen Organisationen um das Konzept des Femizids/Feminizids, also der Tötung von Frauen, weil sie Frauen sind.

In Deutschland steht eine solche Diskussion allerdings noch weitestgehend aus. Die im März 2017 gegründete Plattform „Keine Mehr“ möchte deshalb genau hier ansetzen. Anschließend an diese Initiative will der folgende Beitrag eine Auseinandersetzung darüber anstoßen, was in unterschiedlichen Bereichen sichtbar wird, was sich verändert und verändern müsste, wenn das Konzept des Femizids/Feminizids im deutschen Kontext verwendet wird. Dazu zählen insbesondere die Bereiche Statistikerhebung und Forschung, mediale und gesellschaftliche Diskurse sowie Gesetzgebung und Rechtsprechung. Es kann und soll sich an dieser Stelle jedoch nur um erste Anregungen für weitere Forschung und Debatten auf wissenschaftlicher, gesellschaftspolitischer und juristischer Ebene handeln.

Femizid und Feminizid – eine Begriffsfindung

Eingeführt hatte den Begriff femicide (Femizid) die Soziologin Diane Russel 1976, als sie ihn vor dem Internationalen Tribunal zu Gewalt gegen Frauen in Brüssel im Kontext von Tötungen von Frauen durch Männer verwendete, ohne ihn jedoch näher zu definieren (Russel 2011a) [1]. Das Verständnis eines „mysogynous killing of women by men“ führte sie erst 1992 zusammen mit Jill Radford weiter aus (Radford/Russel 1992, 3). Obwohl sie sich in ihrer Anthologie auf den britischen und US-amerikanischen Kontext fokussieren, wurde die Debatte vor allem in Lateinamerika aufgegriffen und weitergeführt. In Mexiko war es die Anthropologin Marcela Lagarde y de los Ríos, die den Begriff in den wissenschaftlichen Diskurs einbrachte. Sie übersetzte ihn jedoch auf Spanisch mit feminicidio (Feminizid). Die sprachlich korrekte Übertragung als femicidio (Femizid) bezeichne, so Lagarde y de los Ríos (2006), lediglich die weibliche Form der allgemeinen Tötung (homicidio) und daher jeglichen Mord an Frauen. Dies stehe dem politischen Gehalt des Konzepts jedoch entgegen, das nicht nur Tötungen nach dem Geschlecht des Opfers differenzieren, sondern gerade jene Tötungen herausheben möchte, die geschlechtsbasiert sind. Der Begriff Feminizid soll klarstellen, dass zwar alle Feminizide Tötungen von Frauen, aber nicht alle Tötungen von Frauen Feminizide sind, denn nicht alle sind durch hierarchische Geschlechterverhältnisse motiviert. Zudem ist für Lagarde y de los Ríos die weitläufige Straflosigkeit in diesen Fällen ein Definitionsmerkmal für Feminizide. Der Staat komme durch die mangelnde Strafverfolgung seiner Verantwortung nicht nach, für das Leben und die Sicherheit von Frauen zu sorgen (ebd.). Russell wiederum kritisiert diese Erweiterung, da auch Feminizide, die strafrechtlich verfolgt werden, weiterhin Feminizide seien und nicht überall, wo sie stattfinden, Straflosigkeit vorherrsche (Russell 2011a).

Die Wahl zwischen den Begriffen Femizid und Feminizid hat aus diesen Gründen immer wieder zu hitzigen Debatten geführt. Viele Theoretiker_innen verwenden jedoch inzwischen beide Begriffe synonym, um für einen Zusammenschluss der Kräfte statt einer spaltenden Begriffsdiskussion zu plädieren, zumal in der Beschreibung des Phänomens ausreichend Einigung existiert. Dem möchte ich mich im Folgenden anschließen, wobei sich bei der Verwendung im Deutschen auch Fragen auftun. Anders als das englische homicide oder das spanische homicidio bieten die deutschen Begriffe Mord und Tötung keine Analogie. So ist anzunehmen, dass häufig eine Assoziation mit Genozid ausgelöst wird, was ein Verständnis des Konzepts behindern kann. Für den Gebrauch der Begriffe Femizid und Feminizid spricht hingegen die Anbindung an die internationalen Debatten und in diesem Sinne auch die Markierung eines globalen Phänomens. Letztlich kann erst eine Auseinandersetzung mit dem Thema im deutschen Kontext zeigen, ob der Begriff und sein politischer Gehalt Anschluss finden werden.

Absicherung männlicher Herrschaft

Gemein ist den verschiedenen Ansätzen, Feminizide als extremen Ausdruck hierarchischer Geschlechterverhältnisse und männlichen Dominanzbestrebens zu fassen. Für Rita Segato beruht die männliche Vormachtstellung auf der Ausübung von Herrschaft in unterschiedlichen, miteinander verflochtenen Formen, sei es „sexuell, intellektuell, ökonomisch, politisch oder kriegerisch“ (Segato 2010, 5, Übers. AW). Die Herrschaft komme insbesondere dann zum Tragen, wenn diese männlich-hegemoniale Position angegriffen wird, und verdränge auch die emotionalen Aspekte in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Der Rückgriff auf körperliche Gewalt durch den Mann ersetze jegliche Dimension der persönlichen Bindung zur Beziehungspartnerin durch den bloßen Willen zur Beherrschung (ebd.). Die Verteidigung einer überlegenen Stellung unterstreicht auch Russell, wenn sie bezugnehmend auf eine Studie von Jacquelyn Campbell und anderen (Campbell et al 2003) die relative Zunahme von Femiziden in Partnerschaften zwischen 1976 und 1996 in den USA mit den Fortschritten feministischer Bewegungen in dieser Zeit in Beziehung setzt. Die Gleichzeitigkeit beider Entwicklungen „legt nahe, dass die wachsende Unabhängigkeit von Frauen dazu geführt hat, dass einige Männer mit tödlicher Gewalt reagieren. Diese Männer, die sich bedroht oder herausgefordert fühlen, scheinen sich berechtigt zu fühlen, jede notwendige Gewalt anzuwenden, um die Herrschaft über die zu behalten, die sie für ihre Untergebenen halten“ (Russell 2011b, o.S., Übers. AW).

Unterstützt wird diese Auffassung durch Analysen zu Gewalt und Tötungen in Partnerschaften, die weltweit am häufigsten auftretende Form von Femiziden (Campbell et al. 2007, n. World Health Organization 2012). Dagmar Oberlies analysierte bereits 1995 anhand von gerichtlichen Rekonstruktionen die Kontexte, in denen unter anderem Tötungen von gewalttätigen Männern an ‚ihren‘ Frauen stattfinden. Darin zeichnet sie ein „Bild der Beherrschung, der Herrschaft über Frauen (…). Gewalt, die Männer über Frauen ausüben, ist in den geschilderten Beziehungen das Mittel, um Frauen ihren Willen zu nehmen. Die Tötung ist das letzte dieser Mittel.“ (Oberlies 1995, 79f.). Besonders deutlich werde das bei sogenannten Trennungstötungen. „Der in dem Entschluss zur Trennung zum Ausdruck kommende eigene Willen der Frau soll um jeden Preis wieder gebrochen werden.“ (Ebd., 82) Tatsächlich untermauern auch repräsentative Studien für Deutschland das ganz besondere Risiko von Frauen, in Trennungs- und Scheidungssituationen Opfer von Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner zu werden (Schröttle/Müller 2004). Auch der berufliche Ein- oder Aufstieg von Frauen oder die Arbeitslosigkeit des Partners können mit Partnerschaftsgewalt einhergehen, häufiger sind es Schwangerschaft und Geburt (Schröttle/Müller 2004; World Health Organization 2012). Wie Oberlies festhält, stehen Tötungen oft am Ende wiederholter Gewalthandlungen, weshalb sie – ähnlich wie Lagarde – Interventionen von außen vermisst. „Eine Gesellschaft, die nicht konsequent gegen Gewalt gegen Frauen vorgeht, nimmt deren Tötung billigend in Kauf.“ (Oberlies 1995, 79)

Als Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses ist Gewalt gegen Frauen zudem in dessen Dynamik zu untersuchen. Sylvia Walby, Jude Towers und Brian Francis kamen etwa in einer geschlechtersensiblen Auswertung der allgemeinen Straftatenstatistik 1994-2014 für England und Wales zu dem Ergebnis, dass viele Formen von Gewaltverbrechen gegen Frauen seit der Wirtschaftskrise 2008/09 zugenommen haben. Das betreffe ganz besonders familiäre Beziehungen und stehe im klaren Kontrast zur Abnahme von Gewaltverbrechen gegen Männer im selben Zeitraum. Für die Autor_innen scheint dies „im Einklang mit einer Erklärung, die sich auf die verringerte wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen und die Auswirkungen der Kürzungen von Dienstleistungen, von denen Frauen überproportional abhängig sind, konzentriert“, zu stehen. Sie schränken jedoch ein, dass hier weitere Untersuchungen notwendig seien (Walby/Towers/Francis 2016, o.S., Übers. AW). Es ist liegt auf der Hand, dass Frauen, denen es an finanziellen Ressourcen fehlt, sich schwerer aus einer gewalttätigen Beziehung lösen können und so einem höheren Risiko ausgesetzt sind. Das gilt insbesondere, wenn Unterstützungsmöglichkeiten wie Frauenhäuser oder Beratungsangebote den Haushaltskürzungen in der Krise zum Opfer fallen. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Debatten um Feminizide kann das Ergebnis dieser Untersuchung indes auch anders gedeutet werden. Denn wenn Gewalt gegen Frauen durch Männer die Funktion hat, die Geschlechterhierarchie aufrechtzuerhalten oder wieder aufzurichten, stellt sich vielmehr die Frage, ob Männer, die durch die Wirtschaftskrise Prekarisierung erfahren haben, ihre schwindende Vormachtstellung durch Gewalt gegen Frauen kompensieren wollen.

Fehlende Analysen in Deutschland

Für Deutschland fehlen tiefergehende Analysen zur Gewalt gegen Frauen allgemein und Tötungen im Besonderen im Zeitverlauf, was es unmöglich macht, die Zusammenhänge mit gesellschaftlichen Entwicklungen aufzudecken. Um ein ungefähres Bild von Feminiziden zu zeichnen, können jedoch hilfsweise Zahlen des Bundeskriminalamtes zu Gewalt durch aktuelle oder ehemalige Partner herangezogen werden, die seit 2011 jährlich erhoben werden (Bundeskriminalamt 2018). Dieser Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zufolge wurden im Jahr 2017 147 Frauen von ihren (Ex-)Partnern getötet. [2]  Bei weiteren 224 war die Tötung gescheitert, vermutlich häufig durch reines Glück. In Deutschland fand 2017 also täglich eine versuchte oder vollendete Tötung einer Frau durch ihren (Ex-)Partner statt. Nach Angaben von Beratungsstellen besteht allerdings eine hohe Dunkelziffer an versuchten Tötungen, da sie häufig nicht als solche erkannt und erst recht nicht angezeigt werden, so etwa bei Angriffen auf den Hals (Frauenhauskoordinierung et al 2012, zit.n. Wir Frauen). Angesichts der Berichte über jene Länder, in denen bereits Bewegungen gegen Feminizide existieren, könnte man argumentieren, dass diese Zahlen sehr niedrig seien. Ländervergleiche sind jedoch aufgrund der unterschiedlichen Quellen und zugrunde gelegten Definitionen schwierig.

Da es sich auch beim Heranziehen der PKS um eine Hilfskonstruktion handelt, bleiben zudem viele Fragen offen: Auch wenn der Großteil von Femiziden innerhalb von Partnerschaften stattfindet, gilt dies nicht zwangsläufig. Waren also all diese Tötungen tatsächlich geschlechtsspezifisch? Was ist mit den 77 Frauen, die von Familienangehörigen umgebracht worden sind? Was ist mit den 51 getöteten und 27 entkommenen Frauen, bei der die Beziehung zum Täter ungeklärt ist? Ganz generell, was geschah den rund 61% der weiblichen Opfer von Tötungsdelikten, die nicht eindeutig in einer Beziehung stattfanden? Und wo finden sich die Tötungen von Trans*Frauen? Die Zahlen des BKA sagen es nicht, denn sie sind nicht darauf ausgerichtet, die Frage nach Feminiziden zu beantworten. Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen zu Gewalt gegen Frauen, Dubravka Šimonović, fordert mit Blick auf mangelnde Daten die Gründung eines „Femicide-Watch“ in jedem Land, das Informationen zu Opfern, Tätern und ebenso dem Verlauf der Strafverfolgung sammeln und jährlich veröffentlichen soll (Šimonović 2015). Eine solche Art Forschungsinstitut wäre die notwendige Grundlage, um die theoretischen Überlegungen zu überprüfen und eventuell noch unerkannte Zusammenhänge im deutschen Kontext zu erschließen.

Zwischen ‚Eifersuchtsdrama‘ und ‚Ehrenmord‘

Ein Grund für die mangelnde Erfassung ist das fehlende gesellschaftliche und politische Bewusstsein für Feminizide. Ausschlaggebend ist hier auch die mediale Berichterstattung, die bei Tötungen durch Partner sehr häufig von „Eifersuchtsdrama“ oder „Familientragödie“ spricht. Begriffe, die das Bild von traurigen Schicksalsschlägen produzieren, ohne strukturelle Machtverhältnisse zu thematisieren, und die das geschehene Verbrechen gänzlich ‚entnennen‘. Nur im Falle ‚Ehrenmord‘ wird die Tötung selbst überhaupt sprachlich aufgegriffen.

Doch auch hier verstellt schon die Bezeichnung den Blick auf die Opfer. Schieben die Begriffe ‚Familiendrama‘ oder ‚Beziehungstat‘ das Problem ins Private, so fügt sich ‚Ehrenmord‘ in eine Erzählung ein, die sich auf die kulturelle Prägung des Täters beschränkt. „Ehrenmorde lösen auch deswegen so große Aufmerksamkeit aus, weil sie als Symbol der kulturellen Unterschiede zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den Herkunftskulturen der Einwanderer dienen“, konstatieren Dietrich Oberwittler und Julia Kasselt (2011, 2) in einer im Auftrag des Bundeskriminalamts angefertigten Studie zu ‚Ehrenmorden‘ in Deutschland, in der sie sowohl Prozessakten als auch die Medienberichterstattung als Material heranziehen (ähnlich Folyanti/Lembke 2014). Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass ‚Ehrenmorde‘ immer wieder als Kronzeugen für Diskussionen über eine mangelnde Integration von Migranten insbesondere aus islamischen Ländern dienen müssen. Besondere Bedeutung hatte der Mord an Hatun Sürücü im Jahr 2005 in Berlin. Ihr Bruder hatte sie getötet, da er seine Wertevorstellungen durch den ‚westlichen‘ und unabhängigen Lebensstil der 23-Jährigen verletzt sah. Infolge war eine „explosionsartige Entwicklung der Medienaufmerksamkeit für das Thema Ehrenmorde“ zu verzeichnen (Oberwittler/Kasselt 2011, 2). Nach Freisprüchen für zwei weitere Brüder, denen eine Beteiligung nicht nachgewiesen werden konnte, forderte der damalige sozialdemokratische Berliner Innensenator Ehrhart Körting die Familie zur Auswanderung auf (Tagesspiegel 13.4.2006) [3], andere Politiker zogen nach. Vor dem Hintergrund dieser Debatten wurde 2005 schließlich das Zuwanderungsgesetz verschärft.

Die BKA-Studie verneint nicht den kulturellen Einfluss oder die Bedeutung eines spezifischen Wertesystems bei ‚Ehrenmorden‘ im engeren Sinne, definiert als „die Tötung eines Mädchens oder einer jungen Frau durch ihre Blutsverwandten zur Wiederherstellung der kollektiven Familienehre“ (Oberwittler/Kasselt 2011, 165). Sie stellt jedoch heraus, dass die meisten Fälle, denen dieser Aspekt zugeschrieben wird, tatsächlich eine andere Motivlage aufweisen. „Häufiger als Ehrenmorde im engeren Sinn sind Grenzfälle zur Partnertötung, bei denen die Ehefrau oder Partnerin durch Unabhängigkeitsstreben, Trennung bzw. Trennungsabsicht oder (vermutete) Untreue den Anlass für die gewaltsame Reaktion des (Ex-)Partners gibt.“ (Ebd.) Diese Konstellation wiederum sei in allen Gesellschaften gleich und ließe sich „grundsätzlich als extremer Ausdruck männlichen Dominanz- und Besitzdenkens gegenüber Frauen deuten“ (ebd.).

Dass in Fällen eines nicht-deutschen Täters also weniger ein tatsächlicher Wunsch nach Verständnis und Aufklärung im Vordergrund zu stehen scheint, sondern vielmehr die rassistische Instrumentalisierung, zeigt sich erneut in den aktuellen Debatten. Als die ARD-Tagesschau den Mord an einem 15-jährigen Mädchen durch ihren afghanischen Exfreund in Kandel im Dezember 2017 als „Beziehungstat“ einordnete und aus diesem Grund zunächst nicht darüber berichtete (ARD-aktuell 28.12.2017), gab es einen großen Aufschrei. Im deutschen Kontext ist diese Beschreibung jedoch Standard. Das Konzept des Feminizids hat hier großes Potential, weil es weder verharmlost noch aussondert. Vielmehr sollen damit sowohl Morde im Namen einer vermeintlichen Ehre als auch sogenannte Beziehungstaten zu Fragen des öffentlichen Interesses erhoben werden. Was im Falle von ‚Ehrenmorden‘ meist als kultureller Hintergrund bezeichnet wird, fasst das Konzept des Femizids als gesellschaftliche Bedingungen, die jeweils genauer untersucht werden müssen.

Rechtsprechung als Spiegel gesellschaftlicher Debatten

Gesellschaftliche Debatten und Bewusstsein sind aber nicht nur mit Blick auf die politischen Schlussfolgerungen relevant, sondern ebenso für die Rechtsprechung. Der deutsche Mordparagraf (§ 211 StGB) beinhaltet das Merkmal der niederen Beweggründe, das eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren erfordert, und damit eine normative Bewertung durch das Gericht. Bei Urteilen zur Tötung von Intimpartnerinnen scheint es einer Analyse der Rechtswissenschaftlerin Ulrike Lembke zufolge „fast beliebig, ob in vergleichbaren Konstellationen die Motive des Täters als Absprechen des Lebensrechtes, rücksichtsloser Eigennutz, Frust, Bestrafungswille, Rachsucht oder umgekehrt als Sorge um Kindeswohl, Affekt, Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Trennungsschmerz bewertet werden“ (Lembke 2009, 111). Im ersten Fall werden also niedere Beweggründe anerkannt, was Mord und damit zwingend lebenslange Haft bedeutet; im zweiten Fall jedoch nicht, weshalb es sich dann um Totschlag mit Freiheitsentzug von 5-15 Jahren handelt. Das deutsche Strafgesetzbuch erkennt sogar einen minder schweren Fall des Totschlages an, wenn der Täter „ohne eigene Schuld durch (…) schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt“ (§ 213 StGB) worden ist. Auch hier obliegt es dem Gericht zu beurteilen, was als schwere Beleidigung gelten kann. Systematische Untersuchungen über die Anwendung fehlen.

Im Gegensatz zur Rechtsprechung bei Tötungen in Partnerschaften hat die öffentliche Debatte um ‚Ehrenmorde‘ dazu geführt, dass die objektive Verwerflichkeit in diesen Fällen nicht mehr angezweifelt wird, und gleichzeitig die subjektive Dimension kaum mehr Berücksichtigung findet. Lena Folyanti und Ulrike Lembke zufolge führe „die Fokussierung auf die fremde homogene Kultur in den ‚Ehrenmord‘-Fällen dazu, dass nicht mehr darauf eingegangen wird, ob die Täter individuell verzweifelt waren“ (Folyanti/Lembke 2014, 312). Das hat zur Folge, dass sie, anders als Trennungstötungen, in der Regel das Mordmerkmal der niederen Beweggründe erfüllen. Von einem „Islam-Rabatt“ (Bild.de 31.3.2014) kann also nicht die Rede sein. Die Rechtswissenschaftlerinnen kommen deshalb zu dem Schluss: „Die Rechtsprechung zu Trennungstötungen stellt den Rechtsstaat in Frage, die Rechtsprechung zu ‚Ehrenmorden‘ vernachlässigt das (individuelle) Schuldprinzip. Eine gute Balance finden beide nicht.“ (Folyanti/Lembke 2014, 312) Hier fehlt es an weiteren juristischen Überlegungen, wie die Beurteilung der konkreten Tat und die Berücksichtigung der geschlechterhierarchischen Strukturen, wie es das Konzept des Femizids vorsieht, in Einklang gebracht werden können. Eine Forderung, einen eigenen Straftatbestand des Femizids einzuführen, wie er in vielen lateinamerikanischen Ländern inzwischen existiert, wäre angesichts mangelnder Vorschläge einer rechtsdogmatischen Einbettung verfrüht.

Femi(ni)zide benennen! Als Konzentration feministischer Kritiken

Ob nun auf wissenschaftlicher, gesellschaftspolitischer oder juristischer Ebene: Das Konzept des Femizids wirft viele Fragen an die Verhältnisse in Deutschland auf. Sind ‚wir‘ vielleicht doch nicht so geschlechtergerecht wie vielerorts behauptet? Welche gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre drücken sich in der Gewalt gegen Frauen aus? Welche Gruppen an Frauen sind möglicherweise besonders häufig betroffen, die aktuell noch nicht sichtbar sind? An welcher Stellschraube kann eine effektive Prävention ansetzen? Wie wirkungsvoll ist die Strafverfolgung in Deutschland? Doch um diesen Fragen nachgehen zu können, ist weit mehr Wissen notwendig, als die bloße Zahl toter Frauen. Es braucht umfassendes Material, anhand dessen etablierte Thesen zu Femiziden überprüft und Analysen zu den spezifischen Ausprägungen in Deutschland überhaupt erst erstellt werden können. Erst das wiederum kann die Grundlage einer politischen Auseinandersetzung sein, die sich nicht von rassistischen Stimmungen leiten lässt, sondern an tatsächlicher Prävention von Gewalt gegen Frauen interessiert ist.

Für die Plattform „Keine Mehr“ und eine breitere feministische Bewegung eignet sich der Begriff derweil schon jetzt, um verschiedene Kritiken patriarchaler Verhältnisse zu bündeln und um die notwendigen Forschungen und Debatten praktisch einzufordern. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch hier noch offene Fragen bestehen. Wie kann in der Thematisierung von Feminiziden einer Essentialisierung des Subjekts Frau vorgebeugt werden? Wie kann trotz des Fokus auf die Tötung von Frauen ein althergebrachter Opfer-Diskurs durchbrochen werden? Wie kann verhindert werden, dass auch der Begriff des Femizids kulturalisierend oder moralisch vereinnahmt wird? Auch an dieser Stelle werden sich die praktischen Antworten am deutschen Kontext orientieren müssen.

Fußnoten:
[1] Eigenen Angaben zufolge griff sie den Titel einer geplanten Anthologie der US-amerikanischen Schriftstellerin Carol Orlock auf, die jedoch niemals veröffentlicht wurde (Russell 2011a).
[2] Anders als das Bundeskriminalamt in seinen Auswertungen der Polizeilichen Kriminalstatistiken (PKS) werden in diesem Text stets auch Körperverletzungen mit Todesfolge in die Zahl der Tötungen einberechnet.
[3] „Wenn sie denn wirklich Ehre im Leib hätten, dann sollten sie die Konsequenz ziehen und die Bundesrepublik Deutschland verlassen“, so Körtnig (Tagesspiegel 13.4.2006).

Literatur:

  • ARD-aktuell, 2017: Kandel – wie die tagesschau damit umgeht. Internet: http://blog.tagesschau.de/2017/12/28/kandel-wie-die-tagesschau-damit-umgeht/ (1.7.2018).
  • Bild.de, 2014: Geben unsere Gerichte Islam-Rabatt? Internet: https://www.bild.de/news/inland/gerichtliche-entscheidung/tote-jolin-geben-unsere-gerichte-islam-rabatt-35291480.bild.html (6.7.2018).
  • Bundeskriminalamt, 2018: Polizeiliche Kriminalstatistik 2017. Übersicht Opfertabellen. Internet: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2017/Standardtabellen/standardtabellenOpfer.html;jsessionid=100896F7240C94D213486D3D8136F4A5.live0602?nn=96600 (6.7.2018).
  • Campbell, Jacquelyn C./Webster, Daniel/Koziol-McLain, Jane/Block, Carolyn/Campbell, Doris/Curry, Mary Ann/Gary, Faye/ Glass, Nancy/McFarlane, Judith/Sachs, Carolyn/Sharps, Phyllis/Ulrich, Yvonne/Wilt, Susan A./Manganello, Jennifer/Xu, Xiao/Schollenberger, Janet/Frye, Victoria/Laughon, Kathryn, 2003: Risk-factors for Femicide in Abusive Relationships. Results from a Multisite Case Control Study. In: American Journal of Public Health. 93 (7), 1089-1097.
  • Campbell, Jacquelyn C./Glass, Nancy/Sharps, Phyllis W./Laughon, Kathryn/Bloom, Tina, 2007: Intimate Partner Homicide. Review and Implications of Research and Policy. In: Trauma, Violence, & Abuse. 8 (3), 246-69.
  • Folyanti, Lena/Lembke, Ulrike, 2014: Die Konstruktion des Anderen in der „Ehrenmord“-Rechtsprechung. In: Kritische Justiz. 47 (3), 298-315.
  • Lagarde y de los Ríos, Marcela, 2006: Presentación a la edición en español. In: Russell, Diane (Hg.): Feminicidio. Una perspectiva global. Mexiko-Stadt, 11-14.
  • Lembke, Ulrike, 2009: Das Recht des Stärkeren. Zur schwierigen dogmatischen Beziehung von Heimtückemord, Trennungstötung und Gewaltschutzgesetz. In: Neue Kriminalpolitik. 21 (3), 109-113.
  • Oberlies, Dagmar, 1995: Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen. Eine Untersuchung geschlechtsspezifischer Unterschiede aus dem Blickwinkel gerichtlicher Rekonstruktionen. Pfaffenweiler.
  • Oberwittler, Dietrich/Kasselt, Julia, 2011: Ehrenmorde in Deutschland 1996-2005. Eine Untersuchung auf der Basis von Prozessakten. Im Auftrag des Bundeskriminalamtes. Köln.
  • Radford, Jill/Russell, Diane (Hg.), 1992: Femicide. The Politics of Woman Killing. New York. Russell, Diane, 2011a: The Origin and Importance of the Term Femicide. Internet: http://www.dianarussell.com/origin_of_femicide.html (30.6.2018).
  • Russell, Diane, 2011b: Femicide. The Power of a Name. Internet: http://www.dianarussell.com/femicide_the_power_of_a_name.html (24.6.2018).
  • Šimonović, Dubravka, 2015: UN Rights Expert Calls All States to Establish a ‘Femicide Watch’, Internet: https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=16796 (1.7.2018).
  • Segato, Rita, 2010: Feminicidio y femicidio. Conceptualización y apropiación. In: Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Feminicidio. Un fenómeno Global. De Lima a Madrid. Brüssel, 5-6.
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  • Tagesspiegel, 2006: Körting. Familie Sürücü sollte Deutschland verlassen. Internet: https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-dem-urteil-koerting-familie-sueruecue-sollte-deutschland-verlassen/702292.html (14.7.2018).
  • Walby, Sylvia/Towers, Jude/Francis, Brian, 2016: Is Violent Crime Increasing or Decreasing? A New Methodology to Measure Repeat Attacks Making Visible the Significance of Gender and Domestic Relations. In: The British Journal of Criminology. 56 (6), 1203-1234. Internet: https://doi.org/10.1093/bjc/azv131 (24.6.2018).
  • Wir Frauen, o.J.: Geschlechtsspezifische Tötungen in Deutschland. Internet: https://wirfrauen.de/geschlechtsspezifische-toetungen-in-deutschland (1.7.2018).
  • World Health Organization, 2012: Femicide. Internet: http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/77421/WHO_RHR_12.38_eng.pdf?sequence=1 (30.6.2018).