KategorieKolumne

Dem »kleinen Mann« ist mehr zumutbar

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Sind Frauen die besseren Menschen? Oder die linkeren? Die Ergebnisse der letzten Wahlen legen das nahe. Und doch spielt das in den verstärkt geführten Strategiedebatten fast keine Rolle. Wer ist eigentlich gemeint, wenn von gesellschaftlichen Mehrheiten geträumt wird? In der Arbeiterinnenklasse liegt ein großes Potenzial, nicht nur als Zielgruppe, auch für die Ausrichtung und die politische Kultur der Linkspartei.

Die Wahlergebnisse des vergangenen Jahres zeigen, dass besonders Frauen von Mitte-links-Parteien angesprochen werden. Bereits 2017 hatte die LINKE bei der Bundestagswahl im Vergleich zu 2013 nur bei den Frauen zugelegt. Im Osten wird die LINKE durchweg häufiger von Frauen gewählt als von Männern. Das zeigte nicht zuletzt die Wahl in Thüringen. Umgekehrt sieht es bundesweit bei der AfD aus.

Die Gründe dafür sind vielschichtig. Ein Grund dürfte aber sein, dass sich Frauen in den vergangenen Jahren wieder vermehrt klassenpolitisch organisiert haben – ob in den Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst, im Einzelhandel und in Krankenhäusern, oder in den zunehmenden Protesten rund um den 8. März. Und trotzdem gibt es bisher keine Strategie, wie wir noch mehr Arbeiterinnen für die LINKE und linke Politik gewinnen können. Ein einzelnes Feminismuskapitel im Wahlprogramm ist noch keine Strategie.

Dass die LINKE in den Pflegeauseinandersetzungen nun präsent ist, ist eine bemerkenswerte Ausnahme, doch wird dies nicht in eine sozialistische Erzählung eingeschrieben. Der letzte Versuch einer solchen Erzählung scheiterte 2011 mit der Ablehnung einer feministisch-sozialistischen Präambel für das Parteiprogramm. Eine Vision, die nicht nur einzelne zumeist männliche Klassenfraktionen in den Mittelpunkt stellt, darf die Lebens- und Arbeitswelt von Frauen nicht auf Extraseiten verbannen. Wir müssten eine Neuorganisation von Reproduktion wie Produktion entwerfen, auf die unsere aktuellen Forderungen erkennbar verweisen. So etwa, wie es derzeit mit der Forderung nach Enteignungen und öffentlichem Eigentum funktioniert.

Momentan ist es nicht verwunderlich, wenn zahlreiche LINKE in Netzwerken für einen feministischen Streik aktiv sind, der genau eine solche Neuorganisation einfordert, aber ihr Aktivismus oft unverbunden mit der Parteiarbeit bleibt. Es gilt, diese Organisierungen zu stärken und in die Parteidebatten und parlamentarische Arbeit zurückzuspeisen.

Aber auch programmatische Ausrichtungen greifen zu kurz, wenn wir Frauen, die sich davon angesprochen fühlen, nicht in die Partei integrieren können. In der Debatte um eine Feminisierung von Politik werden auch Fragen nach einer gemeinsamen Kultur aufgeworfen. Wer hat schon Lust, sich nach einem langen Tag, an dem man sich mit dem tyrannischen Chef rumgeärgert hat oder an dem das Kind mal wieder besonders nervig war, noch in eine Parteisitzung einzubringen, in der sich mehrheitlich ältere Männer langatmige oder aggressive Redebeiträge zuwerfen? Kaum eine Frau, aber sicherlich auch viele Männer nicht.

Doch hier wird von manchen die ewig gleiche Gegenüberstellung betont und der Wunsch nach einem besseren Umgang miteinander als Anspruch einer privilegierten Mittelklasse verworfen, während die Arbeiter*innenschaft nur eines will: am Stammtisch, bei Bier und Bockwurst, endlich ihre Meinung sagen. Der »kleine Mann« habe ein Recht darauf so zu bleiben, wie er ist und nicht politisch korrekt umerzogen zu werden. Das ist nicht nur undifferenziert, sondern auch paternalistisch. Die Vertreter dieser Ansicht halten meist auch den besagten »kleinen Mann« für zu blöd, für den sie vermeintlich Partei ergreifen.

Es gibt offensichtlich einen Wunsch nach Gemeinschaft, der derzeit von den Rechten in ihren Anrufungen an Nation und Familie beantwortet wird. Wir müssen hier unsererseits ein progressives Angebot machen. Deshalb muss die Linkspartei auch eine Gemeinschaft bilden, in der sich Menschen wohl fühlen und eine Pause bekommen vom ständigen Konkurrenzdruck im Alltag. Die LINKE sollte eine soziale Organisation sein, die sich um ihre Mitglieder sorgt, in denen Menschen und ihre alltäglichen Probleme Platz haben. Das ist auch eine zutiefst feministische Forderung, weil traditionell Frauen Sorgen und Probleme auffangen und notwendige emotionale Arbeit übernehmen. Sie sollte eine Aufgabe von allen werden.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 26.11.2019

Zeit für die nächste Eskalationsstufe

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Eine »neue Klassenpolitik« gilt derzeit für viele Linke als eine Hoffnungsträgerin, um angesichts der politischen und gesellschaftlichen Trends aus der allgemeinen Ratlosigkeit herauszukommen. Ihr Kern sind verbindende Praxen der in unterschiedliche Milieus und entlang geschlechtlicher und ethnischer Linien aufgespaltenen Arbeiter*innenklasse. Aus feministischer Sicht geht es gleichzeitig auch (schon immer) darum, dabei über den Tellerrand der Lohnarbeit hinauszublicken und auch die unentlohnte Sorge- und Hausarbeit in Analyse und Auseinandersetzungen miteinzubeziehen.

Doch während in Deutschland überwiegend über verbindende Praxen debattiert wird, haben die Frauen in Spanien schon einmal im großen Stil vorgelegt. Am 8. März beteiligten sich landesweit über fünf Millionen von ihnen an einem 24-stündigen feministischen Streik. Frauen blieben ihrer Erwerbsarbeit fern, organisierten sich an Universitäten, blockierten Straßen und Verkehrsmittel und ließen die Hausarbeit liegen – kurzum: Sie legten das Land für einen Tag in Teilen lahm und erreichten damit auch die oberste Riege der Politik.

Regierungschef Mariano Rajoy und seine konservative Partei Partido Popular änderten ebenso wie die sie unterstützende neoliberale Partei Ciudadanos inzwischen ihre bisher deutlich ablehnende Haltung. Einer Umfrage der Zeitung »El País« zufolge bekräftigen 82 Prozent, dass es gute Gründe für den Aufstand der Frauen gibt. Deren Eckpfeiler sind eben jene, die auch in Deutschland Frauen betreffen und zum Streiken anregen müssten: Entgeltdiskriminierung, ungleiche Aufteilung der unbezahlten Sorgearbeit und ihre mangelnde Absicherung mit fatalen Folgen für die eigenständige Existenzsicherung und Rente, sexualisierte Belästigung und Gewalt gegen Frauen usw.

Der Frauen*streik in Spanien ist ein historisches, aber kein für sich stehendes Ereignis. Er ist Anlass und Auftakt einer weit darüber hinausgehenden Organisierung und gesellschaftlichen Debatte. Schon in den vergangenen Jahren gab es in Spanien immer wieder feministische Großdemonstrationen – die aus Lateinamerika kommende Inspiration zu einem feministischen Generalstreik fiel deshalb auf fruchtbaren Boden. Und auch jetzt wollen die Organisatorinnen die durch den Streik entstandene Vernetzung dazu nutzen, ihre Forderungen in andere Mobilisierungen – wie etwa der Rentner*innen – hineinzutragen. Es ist also noch lange nicht vorbei.

Auch deshalb nicht, weil es eine Anregung für andere Länder sein kann, zum Beispiel für Deutschland. Sicher: Sowohl die Frauenbewegung als auch die Demonstrations- und Streikkultur sind hierzulande nur schwer mit jener in Spanien zu vergleichen. Die institutionelle Einbindung und damit oftmals auch Einhegung von großen Teilen der Frauenbewegung ist in den vergangenen Jahrzehnten sehr stark vorangeschritten. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir bei den Gewerkschaften. Erst in letzter Zeit wird dies wieder stärker durchbrochen und herausgefordert. Die Debatte um sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz, die Proteste gegen den Paragrafen 219a und die Streiks und die gewerkschaftliche Organisierung im Pflegebereich zeugen davon.

Doch der politische Streik ist in Deutschland verboten. Gemeinhin gilt, dass der Arbeitskampf den falschen Adressaten treffe, wenn sich die politischen Forderungen an den Staat und nicht allein an den Arbeitgeber richten würden. Es gibt aber Interpretations- und Handlungsspielräume. Nicht nur Marxistinnen verweisen darauf, dass Politik und Ökonomie vielfältig miteinander verwoben sind. Außerdem gäbe es eine ökonomisch bedingte Verteilung von Einflussnahmemöglichkeiten auf die politische Willensbildung. Frauen trifft dies in besonderer Weise, da sie durch ihre unentlohnte Arbeit zwar den Bereich der Produktion mit stützen, aber gleichzeitig soziale und ökonomische Abwertung und Ausgrenzung erfahren. Politische Streiks sind auch in Deutschland damit letztlich eine Frage der Legitimität – der Wahl der Mittel im Verhältnis zum Anliegen. Und die liegen auch in Deutschland auf der Straße, im Betrieb, in der Schule, der Küche, der Pflegeeinrichtung. Frauen haben lange genug für mehr Gleichberechtigung und eine Aufwertung ihrer Tätigkeiten verhandelt. Die Zeit ist reif für die nächste Eskalationsstufe.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 25.04.2018.

Kampf zwischen den Geschlechtern

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

In den Debatten um die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen rückt der Ossi wieder in den Fokus der Berichterstattung. Vor dem inneren Auge tauchen schlecht gelaunte Ost-Männer auf – die Wendeverlierer, die immer was zu meckern haben. Doch die Erzählung ist nicht überzeugend. Nicht nur, dass die Wende Frauen unweit härter traf – viele drehten dieses Schicksal auch wieder um.

Obwohl in den letzten Jahren der DDR fast alle Frauen im Osten erwerbstätig waren, waren sie es, die nach der Wende als erste ihre Arbeitsplätze räumen mussten. 1994 standen doppelt so viele Frauen wie Männer ohne Job da. Sie verloren auch die rechtliche Gleichberechtigung, wie sie den meisten Frauen bis heute verwehrt bleibt. Und doch sind sie heute erfolgreicher als viele männliche Ostbürger. Es lässt sich sogar behaupten, dass die Auseinandersetzung zwischen autoritär und liberal, zwischen rechts und links, auch eine ist, die zwischen den Geschlechtern stattfindet.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Bei der Bundestagswahl 2017 wählten 16,3 Prozent der Männer AfD, von den Frauen waren es nur 9,2 Prozent. Im Osten weicht dieses Verhältnis nicht groß ab. Bei den vergangenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern war der Abstand zwischen weiblichen und männlichen AfD-Wähler*innen noch größer. Unter den mehr als 30 000 Mitgliedern der Partei liegt der Frauenanteil bei rund 15 Prozent.

Dass Frauen sich weniger von der AfD angesprochen fühlen als Männer, mag unter anderem an deren konservativer und menschenfeindlicher Programmatik liegen. Denn die richtet sich auch gegen die Geschlechtergleichstellung.Vielleicht neigen Frauen auch eher dazu, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, statt aus Protest zu wählen. Nicht wenige Berichte und Bücher sind in den vergangenen Monaten über den Aufstieg ostdeutscher Frauen erschienen. Demnach haben sich viele von ihnen nach dem Ende der DDR rascher aufgerafft und zu ihrem früheren Selbstbewusstsein zurückgefunden als Männer. Eine aktuelle Studie von RBB, MDR und der Universität Leipzig zeigt, dass ostdeutsche Frauen an den Spitzen von Wirtschaft, Politik und Justiz sogar erfolgreicher sind als West-Frauen. So sind in den Führungsetagen der 30 größten DAX-Unternehmen Deutschlands zwar insgesamt nur vier Ostdeutsche vertreten, davon sind jedoch drei Frauen. Das sind 75 Prozent. Der Anteil von westdeutschen Frauen unter westdeutschen Führungskräften beträgt lediglich zehn Prozent. Und auch in der Politik liegen ostdeutsche Frauen klar vor ihren westdeutschen Schwestern.

Trotz dieser Erfolgsgeschichten bleiben die ostdeutschen Spitzenfrauen meist unter sich. Es scheint, als seien sie mehr denn je Einzelkämpferinnen geworden; als würden sie ihre Ellenbogen mehr gegen Konkurrent*innen im Job einsetzen denn gegen die Bedrohung durch Rechte und ihre antifeministische, rassistische und antisoziale Ideologie. Bis heute verlassen Frauen eher die ostdeutsche Heimat, als sich mit den zurückbleibenden Männern anzulegen. Denjenigen, die bleiben und es dennoch tun, fehlt es bisher an ausreichend Rückhalt aus der Bevölkerung, auch unter Frauen.

Dass sich bis heute keine wirkmächtige feministische Bewegung entwickelte, hängt wohl mit den Enttäuschungen zusammen, die aus dem gescheiterten Versuch einer gesamtdeutschen Frauenbewegung Anfang der 1990er herrühren. Mit der Wende verloren DDR-Frauen nicht nur soziale Sicherheiten, sondern auch freiheitliche Rechte – allem voran ein modernes Abtreibungsrecht, von dem West-Frauen nur träumen konnten.

Der Kampf gegen das eingeführte Bundesgesetz wurde Anfang der 1990er zum Entstehungsmoment einer gemeinsamen Frauenbewegung aus Ost und West. Am Ende kam es jedoch nur zu einem Kompromiss, der für West-Frauen einen kleinen Fortschritt, aber für Ost-Frauen einen herben Verlust darstellte. Der verlorene Kampf führte zum Erliegen der noch jungen gesamtdeutschen Frauenbewegung jener Zeit.

Angesichts der Herausforderungen, vor die uns rechte Bewegungen und Parteien aktuell stellen: Wäre es nicht Zeit für einen neuen Aufbruch zu einer neuen breiten Frauenbewegung? Diese würde am Ende nämlich allen nutzen, nicht nur den Frauen im Osten Deutschlands.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 27.08.2019

Auch Blaumänner wollen Zeit für Familie

Von Alex Wischnewski und Kerstin Wolter

»Ich habe überhaupt keine Zeit, soviel zu arbeiten«, platzte kürzlich einer Freundin heraus. Familie, Haushalt, Freundinnen, Liebschaften, politische Debatte, Ehrenamt, Weiterbildung, Hobbies – das Leben erfordert einiges von uns und könnte noch viel mehr bieten. Das wissen auch die Mitarbeiterinnen der Metallbranche. Das Ergebnis der großangelegten Befragung der IG Metall zum Thema Arbeitszeit war eindeutig: die Beschäftigten wollen selbstbestimmt weniger arbeiten. Deshalb fordert die Gewerkschaft in den aktuellen Tarifauseinandersetzungen nicht nur eine Lohnerhöhung. Sie fordert die Möglichkeit einer befristeten Arbeitszeitreduzierung auf 28 Stunden pro Woche, inklusive Rückkehrrecht in Vollzeit. Im Falle von Schichtarbeit oder von Kindererziehung und Pflege fordert sie sogar einen Lohnzuschuss durch den Arbeitgeber.

In einer Zeit, in der prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmen, mag die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung nach purem Luxus klingen. Denn immer mehr Menschen arbeiten ungewollt in Teilzeit oder in schlecht bezahlten Vollzeitjobs. So würde ein Viertel aller Frauen gern ihre Lohnarbeitsstunden erhöhen. Und auch wenn die Löhne in Deutschland im Durchschnitt steigen, sieht die Lohnentwicklung bei der unteren und unteren Mittelschicht mau aus. Seit 2010 nehmen die Einkommen in der unteren Schicht kontinuierlich ab.

In der Metallbranche arbeiten hingegen nicht nur die meisten Angestellten in Vollzeit, auch der Durchschnittslohn liegt mit fast 3500 Euro brutto klar über dem gesellschaftlichen Durchschnitt. So ist das Anliegen der IG Metall ist mehr als eine kleine Verbesserung in einer gut organisierten Branche. Es wirft die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Lohnarbeitszeit und der Zeit für andere Lebensbereiche auf. Vor allem Frauen sehen sich in der Zwickmühle, sie sind scheinbar individuell einer Doppelbelastung oder »Teilzeitfalle« ausgesetzt. Dieses Problem wird nun kollektiv angegangen. Es geht damit im Kern nicht nur um eine revolutionäre Forderung, sie ist auch eine zutiefst feministische.

Dass das in der Metallbranche stattfindet, macht es noch interessanter. Denn vor dem inneren Auge tauchen unweigerlich Männer im Blaumann und Schutzhelm auf und keine mit Kinderwagen und Rollstühlen. Tatsache ist, dass nur rund 18 Prozent aller IG-Metall-Mitglieder Frauen sind. Deshalb zeigt der aktuelle Kampf: Der Wunsch nach mehr Zeit für die Familie, ist nicht länger allein ein Anliegen von Frauen. Auch Männer wollen zunehmend mehr Anteil an der Erziehung ihrer Kinder haben oder mehr Zeit für ihren Partnerin. Jetzt mögen Männerrechtsorganisationen davon faseln, dass der heutige Mann verlernt hat, ein richtiger Mann zu sein. Vielleicht erleben wir jedoch gerade ein Umdenken, was es bedeutet, ein gutes Leben zu haben.

Die Entwicklung der Produktivkräfte – das heißt der Technik und der menschlichen Fähigkeiten – hat in der Geschichte die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Arbeiter*innen den endlosen Arbeitstagen schließlich mit der Durchsetzung des Acht-Stunden-Tages ein Ende setzen konnten. Mit der fortschreitenden Digitalisierung erreichen wir nun eine neue Stufe, die neue Arbeitszeitmodelle in die Diskussion bringt. Wir müssen sie nur erkämpfen. Die IG Metall steht vor den größten Auseinandersetzungen um die Arbeitszeit seit Jahren und damit an einem gesellschaftlich bedeutenden Punkt.

Das weiß auch die Kapitalseite. Ihr Widerstand ist heftig. Rainer Dulger, Gesamtmetall-Präsident, kommentierte die Forderung nach einem Lohnausgleich so: »Mehr Geld fürs Nichtstun wird es mit uns nicht geben.« Dass Dulger die Pflege von Angehörigen oder die Erziehung von Kindern als »Nichtstun« bezeichnet, zeugt nur von seiner eigenen Beschränktheit. Arbeit umfasst nicht nur Lohnarbeit, sondern auch die nicht entlohnte Arbeit am und mit dem Menschen. Feministinnen pochen darauf seit langem. Und: Damit eine Gesellschaft funktioniert, müssen alle in der Lage sein, sich politisch einzumischen. Zeiten wie diese zeugen davon. Zuletzt braucht jeder Mensch Zeit für sich selbst und die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten. Nun kann sich jede*r ausrechnen, dass bei einem Vollzeitjob kaum Zeit für all dies bleibt. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bei entsprechendem Lohnausgleich, verbunden mit der Förderung der öffentlichen sozialen Infrastruktur und der Ausweitung demokratischer Mitbestimmung, ist notwendig für ein gutes Leben für alle.

Auch wenn die Forderungen der IG Metall soweit noch nicht gehen, ihre Kämpfe haben großes Potenzial, über die Metallbranche hinauszuwirken. Was es jetzt braucht, ist Solidarität – auch von Feministinnen.

Zuerst erschienen in der Zeitung neues deutschland, 18.01.2018