Was »pro life« eigentlich bedeutet
Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski
Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Wir reden vom Feminismus – und vom Klimaschutz. Denn beides gehört nicht nur in Theorie zusammen. Die Fridays-for-Future-Bewegung (F4F), die derzeit die Weltpolitik beeinflusst, gibt dieser Verbindung auf vielfältige Weise konkrete Gestalt.
Offensichtlich wird diese Verbindung bereits durch die Beteiligten selbst. Rund 70 Prozent und fast alle der bekannten Gesichter der F4F-Bewegung sind junge Frauen. Das ist besonders interessant, wenn man sich die Zusammensetzung anderer Bündnisse und Bewegungen anguckt. Gewöhnlich tun sich so viele Frauen nur bei explizit feministischen Demonstrationen zusammen, während andere Proteste in der Regel ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis haben und rechte Aufläufe eindeutig von Männern dominiert werden. All das spricht für ein neues Selbstbewusstsein junger Frauen in Europa. Ihre radikale Kritik an der bestehenden Ordnung ist am Ende eine Revolte gegen die »natürliche« Autorität zumeist weißer Männer. Sie lassen sich weder als »Schulschwänzer*innen« abtun noch davon überzeugen, die Klimarettung weiterhin sogenannten Expert*innen zu überlassen, wie es ihnen jüngst FDP-Chef Christian Lindner empfahl.
Woher kommt dieses neue Selbstbewusstsein? Eine wichtige Rolle spielt hier ohne Zweifel die Vorreiterin der neuen Klimabewegung, Greta Thunberg. Viele der erstmals in Bewegungen aktiven Frauen sehen sich inspiriert und ermutigt durch die Schülerin aus Schweden. Es macht eben doch einen Unterschied, welches Geschlecht der Held – oder die Heldin – an der Spitze hat. Das hat auch Folgen für die Organisierung. Wie in der feministischen (Frauen*streik-)Bewegung wird auch bei Fridays for Future der Versuch unternommen, den gesellschaftlichen Anspruch auf ein nachhaltiges und gleichberechtigtes Leben in der eigenen Organisation umzusetzen – ob in Form der Organisierung, der Frage der Repräsentanz oder in der politischen Entscheidungsfindung. Es drückt sich aus in basisdemokratischen Strukturen und dem Konsensprinzip bei Entscheidungen, in Achtsamkeit auf die eigenen Kapazitäten und Quoten bei den Sprecher*innen. Nicht umsonst wird im Hinblick auf solche Verfahren von einer Feminisierung der Politik gesprochen.
Gleichzeitig sollte angesichts der großen Begeisterung für die neue Bewegung nicht ausgeblendet werden, dass sich den Schulstreik jene besser leisten können, die sich keine Sorgen um die Versetzung oder Weiterempfehlung machen müssen. So wie unser Bildungssystem gestrickt ist, betrifft das hauptsächlich Kinder, die ohnehin schon aus besseren Verhältnissen kommen. Das ist kein Vorwurf an die Bewegung, sondern ein Anstoß, darüber nachzudenken, wie wir eine Politik machen können, die Klasse, Geschlecht und Herkunft gleichsam in den Blick nimmt – und wie sich die F4F-Bewegung auch die Frage nach dem Bildungssystem mit auf den Zettel schreiben könnte.
Die prägende Rolle junger Frauen zeigt sich auch bei den Inhalten der Bewegung. Es ist nicht verwunderlich, dass die spezifische Betroffenheit von Frauen durch die Folgen des Klimawandels immer wieder durch die F4F-Bewegung aufgerufen wird. So zeigte ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2014, dass Frauen bei den zunehmenden Naturkatastrophen häufiger und heftiger betroffen sind. Zudem tragen sie häufiger Verantwortung für die Versorgung mit grundlegenden Nahrungsmitteln, wie etwa Wasser. Gleichzeitig werden sie eher von der Versorgung ausgeschlossen, wenn Ressourcen knapp werden. Die Redeführerinnen von F4F wissen das.
Noch ein weiterer Zusammenhang wurde bisher wenig aufgegriffen: Feminismus und Fridays for Future sind Bewegungen gegen Ausbeutung und für das Leben. Karl Marx arbeitete heraus, dass der Kapitalismus die Quellen seines Reichtums beständig untergräbt: die natürlichen Ressourcen und die menschliche Arbeitskraft. Rosa Luxemburg schrieb, dass der Kapitalismus deshalb auf immer neue Landnahmen angewiesen ist, das heißt, fortdauernd bisher nicht durchkapitalisierte Bereiche für sich nutzen muss. Das können sowohl vorgefundene Naturschätze sein als auch nicht entlohnte Reproduktions-, Sorge- und Pflegearbeiten. Die Kämpfe gegen den Raubbau an unseren Lebensgrundlagen und für das Leben werden heute von Frauen und Mädchen angeführt. Es spricht viel dafür, dass sie unsere kommenden Proteste in Form und Inhalt revolutionieren werden.
Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 02.07.2019