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Femi(ni)zide in Deutschland – ein Perspektivwechsel

Von Alex Wischnewski. In: Femina Politica 2/2018, S. 126-134.

Frauenmorde sind kein neues Phänomen, sondern so alt wie das Patriarchat selbst (Radford/Russel 1992). Und doch erhielt es in jüngster Zeit international neue Aufmerksamkeit. Auslöser dafür war der Mord an der argentinischen Schülerin Chiara Paéz im Mai 2015. Ihr Freund erschlug die 14-Jährige, weil sie keine Abtreibung vornehmen lassen wollte, und vergrub sie mit Hilfe seiner Familie im Garten. Daraufhin bildete sich „ni una menos“ („Nicht eine weniger“), ein Kollektiv von Journalistinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen, das am 3. Juni 2015 hunderttausende Menschen gegen Frauenmorde mobilisierte, sowohl in den sozialen Medien als auch auf der Straße. Seither hat sich die Bewegung nicht nur verstetigt, sondern wurde in einer Vielzahl anderer Länder aufgegriffen, insbesondere in Lateinamerika – darunter in Chile, Peru oder Mexiko – aber auch in Spanien, Italien („non una di meno“) oder Albanien. Auch wenn die Proteste 2015 als ein qualitativer Sprung in der Thematisierung von Frauenmorden aufgefasst werden können, stützt sich die Bewegung auf eine bereits Jahrzehnte andauernde Debatte in den Sozialwissenschaften und feministischen Organisationen um das Konzept des Femizids/Feminizids, also der Tötung von Frauen, weil sie Frauen sind.

In Deutschland steht eine solche Diskussion allerdings noch weitestgehend aus. Die im März 2017 gegründete Plattform „Keine Mehr“ möchte deshalb genau hier ansetzen. Anschließend an diese Initiative will der folgende Beitrag eine Auseinandersetzung darüber anstoßen, was in unterschiedlichen Bereichen sichtbar wird, was sich verändert und verändern müsste, wenn das Konzept des Femizids/Feminizids im deutschen Kontext verwendet wird. Dazu zählen insbesondere die Bereiche Statistikerhebung und Forschung, mediale und gesellschaftliche Diskurse sowie Gesetzgebung und Rechtsprechung. Es kann und soll sich an dieser Stelle jedoch nur um erste Anregungen für weitere Forschung und Debatten auf wissenschaftlicher, gesellschaftspolitischer und juristischer Ebene handeln.

Femizid und Feminizid – eine Begriffsfindung

Eingeführt hatte den Begriff femicide (Femizid) die Soziologin Diane Russel 1976, als sie ihn vor dem Internationalen Tribunal zu Gewalt gegen Frauen in Brüssel im Kontext von Tötungen von Frauen durch Männer verwendete, ohne ihn jedoch näher zu definieren (Russel 2011a) [1]. Das Verständnis eines „mysogynous killing of women by men“ führte sie erst 1992 zusammen mit Jill Radford weiter aus (Radford/Russel 1992, 3). Obwohl sie sich in ihrer Anthologie auf den britischen und US-amerikanischen Kontext fokussieren, wurde die Debatte vor allem in Lateinamerika aufgegriffen und weitergeführt. In Mexiko war es die Anthropologin Marcela Lagarde y de los Ríos, die den Begriff in den wissenschaftlichen Diskurs einbrachte. Sie übersetzte ihn jedoch auf Spanisch mit feminicidio (Feminizid). Die sprachlich korrekte Übertragung als femicidio (Femizid) bezeichne, so Lagarde y de los Ríos (2006), lediglich die weibliche Form der allgemeinen Tötung (homicidio) und daher jeglichen Mord an Frauen. Dies stehe dem politischen Gehalt des Konzepts jedoch entgegen, das nicht nur Tötungen nach dem Geschlecht des Opfers differenzieren, sondern gerade jene Tötungen herausheben möchte, die geschlechtsbasiert sind. Der Begriff Feminizid soll klarstellen, dass zwar alle Feminizide Tötungen von Frauen, aber nicht alle Tötungen von Frauen Feminizide sind, denn nicht alle sind durch hierarchische Geschlechterverhältnisse motiviert. Zudem ist für Lagarde y de los Ríos die weitläufige Straflosigkeit in diesen Fällen ein Definitionsmerkmal für Feminizide. Der Staat komme durch die mangelnde Strafverfolgung seiner Verantwortung nicht nach, für das Leben und die Sicherheit von Frauen zu sorgen (ebd.). Russell wiederum kritisiert diese Erweiterung, da auch Feminizide, die strafrechtlich verfolgt werden, weiterhin Feminizide seien und nicht überall, wo sie stattfinden, Straflosigkeit vorherrsche (Russell 2011a).

Die Wahl zwischen den Begriffen Femizid und Feminizid hat aus diesen Gründen immer wieder zu hitzigen Debatten geführt. Viele Theoretiker_innen verwenden jedoch inzwischen beide Begriffe synonym, um für einen Zusammenschluss der Kräfte statt einer spaltenden Begriffsdiskussion zu plädieren, zumal in der Beschreibung des Phänomens ausreichend Einigung existiert. Dem möchte ich mich im Folgenden anschließen, wobei sich bei der Verwendung im Deutschen auch Fragen auftun. Anders als das englische homicide oder das spanische homicidio bieten die deutschen Begriffe Mord und Tötung keine Analogie. So ist anzunehmen, dass häufig eine Assoziation mit Genozid ausgelöst wird, was ein Verständnis des Konzepts behindern kann. Für den Gebrauch der Begriffe Femizid und Feminizid spricht hingegen die Anbindung an die internationalen Debatten und in diesem Sinne auch die Markierung eines globalen Phänomens. Letztlich kann erst eine Auseinandersetzung mit dem Thema im deutschen Kontext zeigen, ob der Begriff und sein politischer Gehalt Anschluss finden werden.

Absicherung männlicher Herrschaft

Gemein ist den verschiedenen Ansätzen, Feminizide als extremen Ausdruck hierarchischer Geschlechterverhältnisse und männlichen Dominanzbestrebens zu fassen. Für Rita Segato beruht die männliche Vormachtstellung auf der Ausübung von Herrschaft in unterschiedlichen, miteinander verflochtenen Formen, sei es „sexuell, intellektuell, ökonomisch, politisch oder kriegerisch“ (Segato 2010, 5, Übers. AW). Die Herrschaft komme insbesondere dann zum Tragen, wenn diese männlich-hegemoniale Position angegriffen wird, und verdränge auch die emotionalen Aspekte in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Der Rückgriff auf körperliche Gewalt durch den Mann ersetze jegliche Dimension der persönlichen Bindung zur Beziehungspartnerin durch den bloßen Willen zur Beherrschung (ebd.). Die Verteidigung einer überlegenen Stellung unterstreicht auch Russell, wenn sie bezugnehmend auf eine Studie von Jacquelyn Campbell und anderen (Campbell et al 2003) die relative Zunahme von Femiziden in Partnerschaften zwischen 1976 und 1996 in den USA mit den Fortschritten feministischer Bewegungen in dieser Zeit in Beziehung setzt. Die Gleichzeitigkeit beider Entwicklungen „legt nahe, dass die wachsende Unabhängigkeit von Frauen dazu geführt hat, dass einige Männer mit tödlicher Gewalt reagieren. Diese Männer, die sich bedroht oder herausgefordert fühlen, scheinen sich berechtigt zu fühlen, jede notwendige Gewalt anzuwenden, um die Herrschaft über die zu behalten, die sie für ihre Untergebenen halten“ (Russell 2011b, o.S., Übers. AW).

Unterstützt wird diese Auffassung durch Analysen zu Gewalt und Tötungen in Partnerschaften, die weltweit am häufigsten auftretende Form von Femiziden (Campbell et al. 2007, n. World Health Organization 2012). Dagmar Oberlies analysierte bereits 1995 anhand von gerichtlichen Rekonstruktionen die Kontexte, in denen unter anderem Tötungen von gewalttätigen Männern an ‚ihren‘ Frauen stattfinden. Darin zeichnet sie ein „Bild der Beherrschung, der Herrschaft über Frauen (…). Gewalt, die Männer über Frauen ausüben, ist in den geschilderten Beziehungen das Mittel, um Frauen ihren Willen zu nehmen. Die Tötung ist das letzte dieser Mittel.“ (Oberlies 1995, 79f.). Besonders deutlich werde das bei sogenannten Trennungstötungen. „Der in dem Entschluss zur Trennung zum Ausdruck kommende eigene Willen der Frau soll um jeden Preis wieder gebrochen werden.“ (Ebd., 82) Tatsächlich untermauern auch repräsentative Studien für Deutschland das ganz besondere Risiko von Frauen, in Trennungs- und Scheidungssituationen Opfer von Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner zu werden (Schröttle/Müller 2004). Auch der berufliche Ein- oder Aufstieg von Frauen oder die Arbeitslosigkeit des Partners können mit Partnerschaftsgewalt einhergehen, häufiger sind es Schwangerschaft und Geburt (Schröttle/Müller 2004; World Health Organization 2012). Wie Oberlies festhält, stehen Tötungen oft am Ende wiederholter Gewalthandlungen, weshalb sie – ähnlich wie Lagarde – Interventionen von außen vermisst. „Eine Gesellschaft, die nicht konsequent gegen Gewalt gegen Frauen vorgeht, nimmt deren Tötung billigend in Kauf.“ (Oberlies 1995, 79)

Als Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses ist Gewalt gegen Frauen zudem in dessen Dynamik zu untersuchen. Sylvia Walby, Jude Towers und Brian Francis kamen etwa in einer geschlechtersensiblen Auswertung der allgemeinen Straftatenstatistik 1994-2014 für England und Wales zu dem Ergebnis, dass viele Formen von Gewaltverbrechen gegen Frauen seit der Wirtschaftskrise 2008/09 zugenommen haben. Das betreffe ganz besonders familiäre Beziehungen und stehe im klaren Kontrast zur Abnahme von Gewaltverbrechen gegen Männer im selben Zeitraum. Für die Autor_innen scheint dies „im Einklang mit einer Erklärung, die sich auf die verringerte wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen und die Auswirkungen der Kürzungen von Dienstleistungen, von denen Frauen überproportional abhängig sind, konzentriert“, zu stehen. Sie schränken jedoch ein, dass hier weitere Untersuchungen notwendig seien (Walby/Towers/Francis 2016, o.S., Übers. AW). Es ist liegt auf der Hand, dass Frauen, denen es an finanziellen Ressourcen fehlt, sich schwerer aus einer gewalttätigen Beziehung lösen können und so einem höheren Risiko ausgesetzt sind. Das gilt insbesondere, wenn Unterstützungsmöglichkeiten wie Frauenhäuser oder Beratungsangebote den Haushaltskürzungen in der Krise zum Opfer fallen. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Debatten um Feminizide kann das Ergebnis dieser Untersuchung indes auch anders gedeutet werden. Denn wenn Gewalt gegen Frauen durch Männer die Funktion hat, die Geschlechterhierarchie aufrechtzuerhalten oder wieder aufzurichten, stellt sich vielmehr die Frage, ob Männer, die durch die Wirtschaftskrise Prekarisierung erfahren haben, ihre schwindende Vormachtstellung durch Gewalt gegen Frauen kompensieren wollen.

Fehlende Analysen in Deutschland

Für Deutschland fehlen tiefergehende Analysen zur Gewalt gegen Frauen allgemein und Tötungen im Besonderen im Zeitverlauf, was es unmöglich macht, die Zusammenhänge mit gesellschaftlichen Entwicklungen aufzudecken. Um ein ungefähres Bild von Feminiziden zu zeichnen, können jedoch hilfsweise Zahlen des Bundeskriminalamtes zu Gewalt durch aktuelle oder ehemalige Partner herangezogen werden, die seit 2011 jährlich erhoben werden (Bundeskriminalamt 2018). Dieser Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zufolge wurden im Jahr 2017 147 Frauen von ihren (Ex-)Partnern getötet. [2]  Bei weiteren 224 war die Tötung gescheitert, vermutlich häufig durch reines Glück. In Deutschland fand 2017 also täglich eine versuchte oder vollendete Tötung einer Frau durch ihren (Ex-)Partner statt. Nach Angaben von Beratungsstellen besteht allerdings eine hohe Dunkelziffer an versuchten Tötungen, da sie häufig nicht als solche erkannt und erst recht nicht angezeigt werden, so etwa bei Angriffen auf den Hals (Frauenhauskoordinierung et al 2012, zit.n. Wir Frauen). Angesichts der Berichte über jene Länder, in denen bereits Bewegungen gegen Feminizide existieren, könnte man argumentieren, dass diese Zahlen sehr niedrig seien. Ländervergleiche sind jedoch aufgrund der unterschiedlichen Quellen und zugrunde gelegten Definitionen schwierig.

Da es sich auch beim Heranziehen der PKS um eine Hilfskonstruktion handelt, bleiben zudem viele Fragen offen: Auch wenn der Großteil von Femiziden innerhalb von Partnerschaften stattfindet, gilt dies nicht zwangsläufig. Waren also all diese Tötungen tatsächlich geschlechtsspezifisch? Was ist mit den 77 Frauen, die von Familienangehörigen umgebracht worden sind? Was ist mit den 51 getöteten und 27 entkommenen Frauen, bei der die Beziehung zum Täter ungeklärt ist? Ganz generell, was geschah den rund 61% der weiblichen Opfer von Tötungsdelikten, die nicht eindeutig in einer Beziehung stattfanden? Und wo finden sich die Tötungen von Trans*Frauen? Die Zahlen des BKA sagen es nicht, denn sie sind nicht darauf ausgerichtet, die Frage nach Feminiziden zu beantworten. Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen zu Gewalt gegen Frauen, Dubravka Šimonović, fordert mit Blick auf mangelnde Daten die Gründung eines „Femicide-Watch“ in jedem Land, das Informationen zu Opfern, Tätern und ebenso dem Verlauf der Strafverfolgung sammeln und jährlich veröffentlichen soll (Šimonović 2015). Eine solche Art Forschungsinstitut wäre die notwendige Grundlage, um die theoretischen Überlegungen zu überprüfen und eventuell noch unerkannte Zusammenhänge im deutschen Kontext zu erschließen.

Zwischen ‚Eifersuchtsdrama‘ und ‚Ehrenmord‘

Ein Grund für die mangelnde Erfassung ist das fehlende gesellschaftliche und politische Bewusstsein für Feminizide. Ausschlaggebend ist hier auch die mediale Berichterstattung, die bei Tötungen durch Partner sehr häufig von „Eifersuchtsdrama“ oder „Familientragödie“ spricht. Begriffe, die das Bild von traurigen Schicksalsschlägen produzieren, ohne strukturelle Machtverhältnisse zu thematisieren, und die das geschehene Verbrechen gänzlich ‚entnennen‘. Nur im Falle ‚Ehrenmord‘ wird die Tötung selbst überhaupt sprachlich aufgegriffen.

Doch auch hier verstellt schon die Bezeichnung den Blick auf die Opfer. Schieben die Begriffe ‚Familiendrama‘ oder ‚Beziehungstat‘ das Problem ins Private, so fügt sich ‚Ehrenmord‘ in eine Erzählung ein, die sich auf die kulturelle Prägung des Täters beschränkt. „Ehrenmorde lösen auch deswegen so große Aufmerksamkeit aus, weil sie als Symbol der kulturellen Unterschiede zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den Herkunftskulturen der Einwanderer dienen“, konstatieren Dietrich Oberwittler und Julia Kasselt (2011, 2) in einer im Auftrag des Bundeskriminalamts angefertigten Studie zu ‚Ehrenmorden‘ in Deutschland, in der sie sowohl Prozessakten als auch die Medienberichterstattung als Material heranziehen (ähnlich Folyanti/Lembke 2014). Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass ‚Ehrenmorde‘ immer wieder als Kronzeugen für Diskussionen über eine mangelnde Integration von Migranten insbesondere aus islamischen Ländern dienen müssen. Besondere Bedeutung hatte der Mord an Hatun Sürücü im Jahr 2005 in Berlin. Ihr Bruder hatte sie getötet, da er seine Wertevorstellungen durch den ‚westlichen‘ und unabhängigen Lebensstil der 23-Jährigen verletzt sah. Infolge war eine „explosionsartige Entwicklung der Medienaufmerksamkeit für das Thema Ehrenmorde“ zu verzeichnen (Oberwittler/Kasselt 2011, 2). Nach Freisprüchen für zwei weitere Brüder, denen eine Beteiligung nicht nachgewiesen werden konnte, forderte der damalige sozialdemokratische Berliner Innensenator Ehrhart Körting die Familie zur Auswanderung auf (Tagesspiegel 13.4.2006) [3], andere Politiker zogen nach. Vor dem Hintergrund dieser Debatten wurde 2005 schließlich das Zuwanderungsgesetz verschärft.

Die BKA-Studie verneint nicht den kulturellen Einfluss oder die Bedeutung eines spezifischen Wertesystems bei ‚Ehrenmorden‘ im engeren Sinne, definiert als „die Tötung eines Mädchens oder einer jungen Frau durch ihre Blutsverwandten zur Wiederherstellung der kollektiven Familienehre“ (Oberwittler/Kasselt 2011, 165). Sie stellt jedoch heraus, dass die meisten Fälle, denen dieser Aspekt zugeschrieben wird, tatsächlich eine andere Motivlage aufweisen. „Häufiger als Ehrenmorde im engeren Sinn sind Grenzfälle zur Partnertötung, bei denen die Ehefrau oder Partnerin durch Unabhängigkeitsstreben, Trennung bzw. Trennungsabsicht oder (vermutete) Untreue den Anlass für die gewaltsame Reaktion des (Ex-)Partners gibt.“ (Ebd.) Diese Konstellation wiederum sei in allen Gesellschaften gleich und ließe sich „grundsätzlich als extremer Ausdruck männlichen Dominanz- und Besitzdenkens gegenüber Frauen deuten“ (ebd.).

Dass in Fällen eines nicht-deutschen Täters also weniger ein tatsächlicher Wunsch nach Verständnis und Aufklärung im Vordergrund zu stehen scheint, sondern vielmehr die rassistische Instrumentalisierung, zeigt sich erneut in den aktuellen Debatten. Als die ARD-Tagesschau den Mord an einem 15-jährigen Mädchen durch ihren afghanischen Exfreund in Kandel im Dezember 2017 als „Beziehungstat“ einordnete und aus diesem Grund zunächst nicht darüber berichtete (ARD-aktuell 28.12.2017), gab es einen großen Aufschrei. Im deutschen Kontext ist diese Beschreibung jedoch Standard. Das Konzept des Feminizids hat hier großes Potential, weil es weder verharmlost noch aussondert. Vielmehr sollen damit sowohl Morde im Namen einer vermeintlichen Ehre als auch sogenannte Beziehungstaten zu Fragen des öffentlichen Interesses erhoben werden. Was im Falle von ‚Ehrenmorden‘ meist als kultureller Hintergrund bezeichnet wird, fasst das Konzept des Femizids als gesellschaftliche Bedingungen, die jeweils genauer untersucht werden müssen.

Rechtsprechung als Spiegel gesellschaftlicher Debatten

Gesellschaftliche Debatten und Bewusstsein sind aber nicht nur mit Blick auf die politischen Schlussfolgerungen relevant, sondern ebenso für die Rechtsprechung. Der deutsche Mordparagraf (§ 211 StGB) beinhaltet das Merkmal der niederen Beweggründe, das eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren erfordert, und damit eine normative Bewertung durch das Gericht. Bei Urteilen zur Tötung von Intimpartnerinnen scheint es einer Analyse der Rechtswissenschaftlerin Ulrike Lembke zufolge „fast beliebig, ob in vergleichbaren Konstellationen die Motive des Täters als Absprechen des Lebensrechtes, rücksichtsloser Eigennutz, Frust, Bestrafungswille, Rachsucht oder umgekehrt als Sorge um Kindeswohl, Affekt, Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Trennungsschmerz bewertet werden“ (Lembke 2009, 111). Im ersten Fall werden also niedere Beweggründe anerkannt, was Mord und damit zwingend lebenslange Haft bedeutet; im zweiten Fall jedoch nicht, weshalb es sich dann um Totschlag mit Freiheitsentzug von 5-15 Jahren handelt. Das deutsche Strafgesetzbuch erkennt sogar einen minder schweren Fall des Totschlages an, wenn der Täter „ohne eigene Schuld durch (…) schwere Beleidigung von dem getöteten Menschen zum Zorn gereizt“ (§ 213 StGB) worden ist. Auch hier obliegt es dem Gericht zu beurteilen, was als schwere Beleidigung gelten kann. Systematische Untersuchungen über die Anwendung fehlen.

Im Gegensatz zur Rechtsprechung bei Tötungen in Partnerschaften hat die öffentliche Debatte um ‚Ehrenmorde‘ dazu geführt, dass die objektive Verwerflichkeit in diesen Fällen nicht mehr angezweifelt wird, und gleichzeitig die subjektive Dimension kaum mehr Berücksichtigung findet. Lena Folyanti und Ulrike Lembke zufolge führe „die Fokussierung auf die fremde homogene Kultur in den ‚Ehrenmord‘-Fällen dazu, dass nicht mehr darauf eingegangen wird, ob die Täter individuell verzweifelt waren“ (Folyanti/Lembke 2014, 312). Das hat zur Folge, dass sie, anders als Trennungstötungen, in der Regel das Mordmerkmal der niederen Beweggründe erfüllen. Von einem „Islam-Rabatt“ (Bild.de 31.3.2014) kann also nicht die Rede sein. Die Rechtswissenschaftlerinnen kommen deshalb zu dem Schluss: „Die Rechtsprechung zu Trennungstötungen stellt den Rechtsstaat in Frage, die Rechtsprechung zu ‚Ehrenmorden‘ vernachlässigt das (individuelle) Schuldprinzip. Eine gute Balance finden beide nicht.“ (Folyanti/Lembke 2014, 312) Hier fehlt es an weiteren juristischen Überlegungen, wie die Beurteilung der konkreten Tat und die Berücksichtigung der geschlechterhierarchischen Strukturen, wie es das Konzept des Femizids vorsieht, in Einklang gebracht werden können. Eine Forderung, einen eigenen Straftatbestand des Femizids einzuführen, wie er in vielen lateinamerikanischen Ländern inzwischen existiert, wäre angesichts mangelnder Vorschläge einer rechtsdogmatischen Einbettung verfrüht.

Femi(ni)zide benennen! Als Konzentration feministischer Kritiken

Ob nun auf wissenschaftlicher, gesellschaftspolitischer oder juristischer Ebene: Das Konzept des Femizids wirft viele Fragen an die Verhältnisse in Deutschland auf. Sind ‚wir‘ vielleicht doch nicht so geschlechtergerecht wie vielerorts behauptet? Welche gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre drücken sich in der Gewalt gegen Frauen aus? Welche Gruppen an Frauen sind möglicherweise besonders häufig betroffen, die aktuell noch nicht sichtbar sind? An welcher Stellschraube kann eine effektive Prävention ansetzen? Wie wirkungsvoll ist die Strafverfolgung in Deutschland? Doch um diesen Fragen nachgehen zu können, ist weit mehr Wissen notwendig, als die bloße Zahl toter Frauen. Es braucht umfassendes Material, anhand dessen etablierte Thesen zu Femiziden überprüft und Analysen zu den spezifischen Ausprägungen in Deutschland überhaupt erst erstellt werden können. Erst das wiederum kann die Grundlage einer politischen Auseinandersetzung sein, die sich nicht von rassistischen Stimmungen leiten lässt, sondern an tatsächlicher Prävention von Gewalt gegen Frauen interessiert ist.

Für die Plattform „Keine Mehr“ und eine breitere feministische Bewegung eignet sich der Begriff derweil schon jetzt, um verschiedene Kritiken patriarchaler Verhältnisse zu bündeln und um die notwendigen Forschungen und Debatten praktisch einzufordern. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch hier noch offene Fragen bestehen. Wie kann in der Thematisierung von Feminiziden einer Essentialisierung des Subjekts Frau vorgebeugt werden? Wie kann trotz des Fokus auf die Tötung von Frauen ein althergebrachter Opfer-Diskurs durchbrochen werden? Wie kann verhindert werden, dass auch der Begriff des Femizids kulturalisierend oder moralisch vereinnahmt wird? Auch an dieser Stelle werden sich die praktischen Antworten am deutschen Kontext orientieren müssen.

Fußnoten:
[1] Eigenen Angaben zufolge griff sie den Titel einer geplanten Anthologie der US-amerikanischen Schriftstellerin Carol Orlock auf, die jedoch niemals veröffentlicht wurde (Russell 2011a).
[2] Anders als das Bundeskriminalamt in seinen Auswertungen der Polizeilichen Kriminalstatistiken (PKS) werden in diesem Text stets auch Körperverletzungen mit Todesfolge in die Zahl der Tötungen einberechnet.
[3] „Wenn sie denn wirklich Ehre im Leib hätten, dann sollten sie die Konsequenz ziehen und die Bundesrepublik Deutschland verlassen“, so Körtnig (Tagesspiegel 13.4.2006).

Literatur:

  • ARD-aktuell, 2017: Kandel – wie die tagesschau damit umgeht. Internet: http://blog.tagesschau.de/2017/12/28/kandel-wie-die-tagesschau-damit-umgeht/ (1.7.2018).
  • Bild.de, 2014: Geben unsere Gerichte Islam-Rabatt? Internet: https://www.bild.de/news/inland/gerichtliche-entscheidung/tote-jolin-geben-unsere-gerichte-islam-rabatt-35291480.bild.html (6.7.2018).
  • Bundeskriminalamt, 2018: Polizeiliche Kriminalstatistik 2017. Übersicht Opfertabellen. Internet: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/PKS2017/Standardtabellen/standardtabellenOpfer.html;jsessionid=100896F7240C94D213486D3D8136F4A5.live0602?nn=96600 (6.7.2018).
  • Campbell, Jacquelyn C./Webster, Daniel/Koziol-McLain, Jane/Block, Carolyn/Campbell, Doris/Curry, Mary Ann/Gary, Faye/ Glass, Nancy/McFarlane, Judith/Sachs, Carolyn/Sharps, Phyllis/Ulrich, Yvonne/Wilt, Susan A./Manganello, Jennifer/Xu, Xiao/Schollenberger, Janet/Frye, Victoria/Laughon, Kathryn, 2003: Risk-factors for Femicide in Abusive Relationships. Results from a Multisite Case Control Study. In: American Journal of Public Health. 93 (7), 1089-1097.
  • Campbell, Jacquelyn C./Glass, Nancy/Sharps, Phyllis W./Laughon, Kathryn/Bloom, Tina, 2007: Intimate Partner Homicide. Review and Implications of Research and Policy. In: Trauma, Violence, & Abuse. 8 (3), 246-69.
  • Folyanti, Lena/Lembke, Ulrike, 2014: Die Konstruktion des Anderen in der „Ehrenmord“-Rechtsprechung. In: Kritische Justiz. 47 (3), 298-315.
  • Lagarde y de los Ríos, Marcela, 2006: Presentación a la edición en español. In: Russell, Diane (Hg.): Feminicidio. Una perspectiva global. Mexiko-Stadt, 11-14.
  • Lembke, Ulrike, 2009: Das Recht des Stärkeren. Zur schwierigen dogmatischen Beziehung von Heimtückemord, Trennungstötung und Gewaltschutzgesetz. In: Neue Kriminalpolitik. 21 (3), 109-113.
  • Oberlies, Dagmar, 1995: Tötungsdelikte zwischen Männern und Frauen. Eine Untersuchung geschlechtsspezifischer Unterschiede aus dem Blickwinkel gerichtlicher Rekonstruktionen. Pfaffenweiler.
  • Oberwittler, Dietrich/Kasselt, Julia, 2011: Ehrenmorde in Deutschland 1996-2005. Eine Untersuchung auf der Basis von Prozessakten. Im Auftrag des Bundeskriminalamtes. Köln.
  • Radford, Jill/Russell, Diane (Hg.), 1992: Femicide. The Politics of Woman Killing. New York. Russell, Diane, 2011a: The Origin and Importance of the Term Femicide. Internet: http://www.dianarussell.com/origin_of_femicide.html (30.6.2018).
  • Russell, Diane, 2011b: Femicide. The Power of a Name. Internet: http://www.dianarussell.com/femicide_the_power_of_a_name.html (24.6.2018).
  • Šimonović, Dubravka, 2015: UN Rights Expert Calls All States to Establish a ‘Femicide Watch’, Internet: https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=16796 (1.7.2018).
  • Segato, Rita, 2010: Feminicidio y femicidio. Conceptualización y apropiación. In: Heinrich Böll Stiftung (Hg.): Feminicidio. Un fenómeno Global. De Lima a Madrid. Brüssel, 5-6.
  • Schröttle, Monika/Müller, Ursula, 2004: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin.
  • Tagesspiegel, 2006: Körting. Familie Sürücü sollte Deutschland verlassen. Internet: https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-dem-urteil-koerting-familie-sueruecue-sollte-deutschland-verlassen/702292.html (14.7.2018).
  • Walby, Sylvia/Towers, Jude/Francis, Brian, 2016: Is Violent Crime Increasing or Decreasing? A New Methodology to Measure Repeat Attacks Making Visible the Significance of Gender and Domestic Relations. In: The British Journal of Criminology. 56 (6), 1203-1234. Internet: https://doi.org/10.1093/bjc/azv131 (24.6.2018).
  • Wir Frauen, o.J.: Geschlechtsspezifische Tötungen in Deutschland. Internet: https://wirfrauen.de/geschlechtsspezifische-toetungen-in-deutschland (1.7.2018).
  • World Health Organization, 2012: Femicide. Internet: http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/77421/WHO_RHR_12.38_eng.pdf?sequence=1 (30.6.2018).

Ist Feminismus jetzt neoliberal?

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Die Debattenkultur in der Linken lässt derzeit zu wünschen übrig. Mit Vorliebe holen die Akteure in den Auseinandersetzungen gleich die verbale Keule heraus. Doch Beschimpfungen wie »Rassistin« oder »Neoliberale« helfen uns nicht weiter. Interessant ist allerdings, wie häufig dabei ausgerechnet der Feminismus zum Messwert für neoliberale Einstellungen gemacht wird. Wie kommt es eigentlich, dass, nicht nur bei Linken, Feminismus und Neoliberalismus so eng miteinander verknüpft werden? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es, in das Jahr 1968 zurückzublicken, als die zweite Frauenbewegung entstand und gleichzeitig der Neoliberalismus noch in den Kinderschuhen steckte.

In den bewegten Zeiten rund um ’68 platzte vielen Frauen der Kragen. Sie prangerten die traditionellen Rollenerwartungen und ihre spürbare Ungleichbehandlung an – auch in der eigenen Organisation. Am Ende flog die Tomate, die 1968 die Männer des SDS-Vorstands auf der Delegiertentagung in Frankfurt traf. Ein Protest gegen die Weigerung der Männer über den Vorwurf von Helke Sander zu diskutieren, die Ausbeutung im privaten Bereich werde auch im SDS tabuisiert. Die Folge war die Gründung von »Weiberräten« in vielen SDS-Gruppen. Die feministischen Abspaltungen führten teils zur Entfremdung von der größeren 68er-Bewegung. Ein Verrat an der Idee, so wurde es ihnen unterstellt. Doch fliegt dabei die Tomate unter den Tisch. Eine Linke, die nicht lernt, die nicht offen ist für neue Ansätze und Bewegungen ist, die wird potenzielle Verbündete verlieren. Das schwächt am Ende tatsächlich die Bewegung. Viele feministische Anliegen wurden durch die unabhängige Organisierung von Frauen erst gehört, statt an der aufgeblähten Brust männlicher Genossen abzuprallen.

Als Graswurzelbewegung gestartet, hat der Feminismus heute eine Popularität erreicht, dass sich selbst Frauen wie IWF-Chefin Christine Lagarde oder Ivanka , Tochter von US-Präsident Trump, Feministinnen nennen. Für einige entstand der Eindruck, Feminismus und Neoliberalismus seien eine »gefährliche Liaison« (Nancy Fraser) eingegangen. Doch, dass neoliberale Politikerinnen sich gleichzeitig für feministische Anliegen einsetzen, ist nicht die Folge der besonderen Passform von Neoliberalismus und Feminismus, sondern eine Frage der Klassenzusammensetzung der Kinder der 68er-Bewegung. 1968 gab es in Deutschland nur rund 300 000 Studierende (heute 2,8 Millionen) und der Anteil an Arbeiterkindern betrug zum Wintersemester 1962/63 nur 6 Prozent (heute liegt er bei über 20 Prozent). Studieren war also vor 50 Jahren mehr als heute ein Privileg und die Absolventinnen wurden anders als heute größtenteils darauf vorbereitet, Führungspositionen in der Gesellschaft zu übernehmen.

Die Breite der 68er-Bewegung und ihre Werte haben vor 50 Jahren viele dieser kommenden Eliten ergriffen. Sie haben diese neuen Forderungen nach Freiheitsrechten in den Wertekanon der bürgerlichen Eliten integriert, in deren Gesellschaft sie nach dem Studium mehrheitlich zurückgekehrt sind. Gerhard Schröder, Joschka Fischer, aber auch Claudia Roth und Renate Künast. Ihre Werte haben auch die kommenden Generationen beeinflusst. Deshalb setzen sich bürgerliche Politikerinnen für Frauenquoten in Aufsichtsräten ein und tragen gleichzeitig Rentenkürzungen und Hartz-IV-Sanktionen mit.

Sie sind bürgerliche Feministinnen, die die kapitalistische Produktionsweise nicht in Frage stellen. Im Gegensatz dazu, hat die viel kleinere Gruppe der sozialistischen Feministinnen der 68er-Bewegung, feministische Forderungen immer mit der Umwälzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse verbunden. In ihrer Tradition steht heute die Mehrheit der Frauen in der Linken. Diejenigen, die sie jetzt als neoliberal brandmarken wollen, sollten sich lieber schnellstmöglich mit ihnen verbünden. Denn es geht vorwärts, im Zweifelsfall auf eigene Faust, und wie es derzeit aussieht, mit mehr Erfolg als die Genossen.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 31.08.2018

Gute Arbeit – auch für Migrantinnen

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Wenn der jüngste »Asylkompromiss« der Großen Koalition eines gezeigt hat, dann, dass die AfD nicht in der Regierung sitzen muss, um die öffentliche Meinung und die Entscheidungen der Politik zu bestimmen. Auch in der Linkspartei wird die Debatte um Migration leidenschaftlich geführt. Während man sich bei der Frage des Rechts auf Asyl – also »offenen Grenzen für Menschen in Not« – einig ist, scheiden sich die Geister an der Forderung nach »offenen Grenzen für alle«. Laut den Gegner*innen müsse man das Recht auf Asyl vom Recht auf Arbeitsmigration unterscheiden. Nach dem Motto »No Border = No Ahnung« gehöre das eine verteidigt, das andere reguliert. Damit wurde die Debatte geschickt verschoben.

Warum der Begrenzungsdiskurs jedoch über kurz oder lang ins Abseits führt, wird deutlich, wenn wir uns die Realitäten von Migration anschauen. Dann stellen wir etwa fest, dass die Mehrheit der weltweiten Ein- und Auswanderung weiblich ist. Die Wissenschaft spricht gar von einer »Feminisierung« von Migration. Auch in Deutschland ist fast die Hälfte der Menschen ohne deutschen Pass weiblich, auch wenn man beim Blick in die Zeitungen permanent das Bild des gewaltbereiten, männlichen Migranten präsentiert bekommt.

Die versuchte Trennung von Arbeitsmigration und Flucht wird mit dem Blick auf die Kategorie Geschlecht besonders fragwürdig. Wenn Frauen aufgrund von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ihr Heimatland verlassen, ist das dann Flucht oder Arbeitsmigration? Und warum soll eigentlich Arbeitsmigration aus Drittstaaten stärker reguliert werden als aus anderen EU-Ländern? Immerhin kommen jedes Jahr schätzungsweise bis zu 300 000 Osteuropäerinnen als Haushaltshilfen für mehrere Monate nach Deutschland. Es gibt viele Berichte von zu langen Arbeitszeiten, dürftigen Löhnen, fehlendem Rechtsschutz und psychischer wie körperlicher Misshandlung. Das staatliche Interesse, für belastbare Rechte und gute Arbeitsbedingungen für die beschäftigten Frauen zu sorgen, ist gering, da sie Personaldruck aus dem deutschen Pflegesystem nehmen. Im Zentrum steht die Verwertung ihrer Arbeitskraft.

Eine Regulierung von Migration aus linker Sicht wird meist aus drei Gründen gefordert. Erstens, weil die Forderung nach offenen Grenzen große Teile der Bevölkerung verschrecken würde. Zweitens, weil die Arbeitsmigration unter den jetzigen Bedingungen zu Lohndumping und Druck auf langjährige Belegschaften führen würde. Drittens, weil »homogenere« Belegschaften besser organisierbar seien im Kampf gegen die Kapitalisten. Den ersten Grund können wir nicht von der Hand weisen, auch wenn wir ihn nicht für naturgegeben halten. Den zweiten Grund teilen wir, aber den dritten Grund können wir nicht nachvollziehen. Wenn in der deutschen Geschichte vor allem jene Bereiche als gut organisierbar galten, die männlich, weiß und auch sonst eher homogen waren, dann liegt es vielleicht auch an den männlichen, weißen und homogenen Gewerkschaften und Parteien.

Die Geschichte zeigt, wie gerade migrantische Arbeiter*innen, eine Schlüsselrolle in Streikbewegungen spielten. So zum Beispiel die türkischen Gastarbeiter im Kölner Ford-Streik 1973. Aber auch die weniger bekannten wilden Streiks der Gastarbeiterinnen in den 1960er und 1970er Jahren führten zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen. Der einseitige Blick auf die Arbeiterschaft traf auch den Pflege- und Erziehungsbereich, der lange als unorganisierbar galt. Diese Streiks sind heute die kämpferischsten in der Bundesrepublik. Wir sollten also darüber nachdenken, ob wir – statt ständig den Begrenzungsdiskurs weiterzuführen – nicht lieber unser Augenmerk auf die Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, der rechtlichen Gleichstellung von Arbeitsmigrantinnen und gleiche Löhne für alle legen sollten. Das würde tatsächlich den Lohndruck aus den Branchen nehmen.

Statt zuzulassen, dass Arbeiter*innen mit und ohne deutschen Pass gegeneinander ausgespielt werden, sollten wir Solidarität und das Bewusstsein über gemeinsame Interessen stärken und die Unsichtbaren sichtbar machen. Warum fangen wir nicht gleich mit den migrantischen Hausangestellten an?

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 19.07.2018

Mutti Merkel wird’s nicht richten

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Falls es jemand noch nicht mitbekommen haben sollte: Auf dem jüngsten Bundesparteitag der Linkspartei in Leipzig hat sich der lange schwelende Konflikt in der LINKEN auf offener Bühne entladen. Dabei ging es um den richtigen Umgang mit einer erstarkenden Rechten und linke Antworten auf die Migrationsbewegungen. Um was es dabei nicht ging: um einen »Zickenkrieg«. Und doch wird die Auseinandersetzung um eine gesellschaftliche Frage immer wieder als Gerangel zwischen zwei Frauen dargestellt, die sich gegenseitig nicht das Rampenlicht gönnen.

Fast ist man froh, dass es immerhin um Macht gehen soll und nicht um einen Mann. Doch der bleibt natürlich auch nicht außen vor. So spricht Olaf Opitz vom »Focus« in einem Interview auf dem Parteitag fachkundig über die Politik von Sahra Wagenknecht: »Bei Wagenknecht ist das so, hinter einer schönen Frau steht ein starker Mann und das ist Oskar Lafontaine und der ist aus dem Saarland, der kennt die Probleme, der kennt da auch seine Kumpels.« Selbst die promovierte Ökonomin und Fraktionsvorsitzende Wagenknecht wird kurzerhand in den Schatten ihres Mannes gestellt.

100 Jahre nachdem Frauen in Deutschland sich das aktive und passive Wahlrecht erkämpft haben, werden politisch engagierte Frauen nicht ernst genommen. Zwar wird Angela Merkel als »Politiker« (hier bewusst im generischen Maskulinum geschrieben) ernst genommen, aber ihr biologisches Geschlecht bringt die Gemüter einiger Journalisten immer wieder in Wallung. »Mutti Merkel« ist eben doch eine Frau, deren Kostüme oder ihr Dekolleté betonendes Kleid bei der Eröffnung der Oper in Oslo nicht unkommentiert bleiben können. Dem »Landesvater« werden ganz andere Eigenschaften zugeschrieben. Aber wann wurde eigentlich das letzte Mal ein männliches Staatsoberhaupt als »Papi« bezeichnet? Papi Kohl? Papi Adenauer? Noch nie gehört? Wir auch nicht.

Doch das »Nicht-ernst-nehmen« äußert sich nicht nur in sexistischer Berichterstattung, sondern auch im politischen Alltagsgeschäft. Das wurde zuletzt im Zuge von metoo deutlich. Natürlich wird dabei mehr über Berufspolitikerinnen gesprochen, doch auch an der Basis haben politisch aktive Frauen zu kämpfen.

Um gleich noch mit einem oft wiederholten Missverständnis aufzuräumen: Frauen sind nicht per se die besseren Menschen. Und mehr Frauen heißt eben nicht gleich mehr antisexistische und antikapitalistische Politik. Aber ohne Frauen bleibt jeder emanzipatorische Anspruch uneingelöst. Fakt ist, dass der Frauenanteil in der LINKEN nur bei knapp über einem Drittel liegt – Tendenz sinkend. Zeit also, an den Grundfesten zu rütteln, die Frauen daran hindern, politisch mitzumischen. Und das sind eben nicht nur Rollenstereotype, sondern auch die ökonomischen Verhältnisse.

Wenn Frauen weit häufiger schlecht bezahlt und prekär beschäftigt sind und gleichzeitig noch immer den größten Teil der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit übernehmen, dann bleibt ihnen schlicht wenig Zeit, sich noch einzubringen. Noch dazu sind Frauen nicht bereit, die wenige Zeit mit »mansplaining« zu verschwenden, also den Belehrungen männlicher Genossen zu so ziemlich allen Gesprächsthemen. Es ist deshalb nicht überraschend, dass viele Frauen sich lieber in einem karitativen Ehrenamt betätigen als in politischen Parteien.

Es geht also darum, die Strukturen selbst zu verändern. In Spanien kam mit den linken Bewegungen und Platzbesetzungen nach der Krise eine lebhafte Debatte um Feminisierung von Politik auf. Dahinter stehen die Ansprüche, eine Politik der ersten Person zu verfolgen inklusive Versammlungen und eine Infrastruktur, in der füreinander Sorge getragen werden kann. Das beinhaltet zum Beispiel die Kinderbetreuung und den Blick auf dominantes Redeverhalten. Es beinhaltet aber auch, die privaten Erfahrungen in eine Versammlung tragen zu können und sie dort als politisch anerkannt zu wissen.

Derzeit gibt es die Diskussion um ein paritätisches Wahlrecht, das die zahlenmäßige Gleichstellung von Frauen in den Parlamenten sichern soll. Auch wenn das Parteien dazu zwingen könnte, sich stärker für die Beteiligung von Frauen zu interessieren, muss eine solche Revolutionierung des Politikmachens von uns linken Frauen kommen. Männer werden es nämlich nicht richten – »Mutti Merkel« aber auch nicht.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 26.06.2018

Einstiegsdroge Frauenhass

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Der Feminismus ist an vielem schuld – an niedrigen Geburtenraten, an gescheiterten Ehen, am Vereinsamen von Männern wie Frauen und an der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Wer kann da nicht verstehen, dass bei so manchem Mann das Frustrationspotenzial aktuell besonders hoch ist, angesichts von Kampagnen wie Aufschrei, MeToo, den weltweiten Frauenmärschen und anderen feministischen Bewegungen. Es ist Zeit, sich zu wehren, liebe Männer! – Aber das tun einige von Euch ja bereits.

Weltweit organisieren sich immer mehr Männer in antifeministischen Männerrechtsbewegungen. In zahlreichen Online-Communities tauschen sie sich darüber aus, dass der Feminismus ihre gesellschaftliche Vormachtstellung infrage stellt, ebenso wie ihr natürliches Recht auf Sex. »Incel« heißt eine dieser Bewegungen in den USA und Kanada und steht für »involuntary celibate« (unfreiwillige Enthaltsamkeit). Emanzipierte Frauen werden zum Hassobjekt ausgerufen. Bei der Amokfahrt in Toronto im April und bei einem Attentat 2014 in den USA gipfelte dieser Hass in der Ermordung von Frauen. Beide Attentäter waren Anhänger der Incel-Bewegung und werden in Online-Foren als Helden gefeiert.

Auch in Deutschland existieren Gruppen und Foren wie agens, MANNdat und wgvdl.com, auf denen Männer sich auf ihr »Mann-Sein« besinnen. Die »Manosphere« ermöglicht ihnen eine leichtere und engere Vernetzung, eine gegenseitige Bestärkung und Aufstachelung. Auffällig ist dabei die Nähe zu rechter Ideologie. Auf dem »feminismusfreien« Internetlexikon WikiMANNia gehen Antifeminismus, Antikommunismus, Nationalismus und Rassismus eine unheilige Allianz ein.

Für viele, die sich dort tummeln, ist Frauenhass eine Art Einstiegsdroge für andere Formen des Hasses und der Menschenfeindlichkeit. Es ist kein weiter Weg von einer Vorstellung, sich als Opfer der Frauenemanzipation zu sehen bis zu einer Ansicht, der weiße Mann müsse die nationale Souveränität retten. Björn Höckes berühmt gewordene Rede 2015 in Erfurt, in der er die Wiederentdeckung der Männlichkeit als Voraussetzung für eine notwendige Wehrhaftigkeit bezeichnete, ist dafür nur ein hervorstechendes Beispiel.

Während Frauen noch immer viel weniger verdienen als Männer, viel häufiger Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt werden und nicht vollkommen selbstbestimmt über den Abbruch einer Schwangerschaft entscheiden dürfen, reden Männerrechtler von Genderwahn, Genderterror und Genderdiktatur. Und dieser Hass hat Folgen. So steigt das Risiko von Frauen, Partnerschaftsgewalt ausgesetzt zu sein genau dann, wenn traditionelle Geschlechterarrangements freiwillig oder unfreiwillig infrage gestellt werden – bei einem Trennungswunsch etwa oder wenn der Mann den Arbeitsplatz verliert. 149 Frauen wurden in Deutschland 2016 von ihren (Ex-)Partnern getötet.

Materielle Unsicherheit und Not können also paradoxerweise dazu führen, dass traditionelle Geschlechterrollen infrage gestellt werden und gleichzeitig in eine Bedrohung für Frauen umschlagen. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass sich die neue antifeministische Männerrechtsbewegung erstmals zu Beginn der 1990er Jahre formierte. In einer Zeit, in der sich Deutschland nach der Wiedervereinigung im nationalen Freudentaumel befand, eine neue Welle rassistischer Gewaltverbrechen das Land überzog und in der die Zukunft – vor allem für Ostdeutsche – von materiellen Unsicherheiten geprägt war. Ebenso erlangen Männerrechtsbewegungen – wie die gesamte Rechte – seit der Krise 2008 wieder an Aufwind.

Während die Rechten den Feminismus zum Feindbild erklären, wird leider auch in Teilen der Linken darüber diskutiert, ob nicht nur materielle Unsicherheiten, sondern auch Gleichstellungspolitik den Aufstieg der Rechten befeuert hätten. Feminismus würde »den Arbeiter« verschrecken, der sein Kreuz dann lieber bei der AfD mache. Doch Frauenemanzipation ist genau so wenig für den Aufstieg der Rechten verantwortlich, wie er es für das Aufkommen von Antifeminismus ist. Die Zunahme von Gewalt gegen Frauen, die neue Infragestellung erkämpfter Frauenrechte und der Frauenhass, der sich im Netz und auf der Straße breit macht, lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Wir brauchen mehr Feminismus, nicht weniger.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 29.05.2018

Zeit für die nächste Eskalationsstufe

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Eine »neue Klassenpolitik« gilt derzeit für viele Linke als eine Hoffnungsträgerin, um angesichts der politischen und gesellschaftlichen Trends aus der allgemeinen Ratlosigkeit herauszukommen. Ihr Kern sind verbindende Praxen der in unterschiedliche Milieus und entlang geschlechtlicher und ethnischer Linien aufgespaltenen Arbeiter*innenklasse. Aus feministischer Sicht geht es gleichzeitig auch (schon immer) darum, dabei über den Tellerrand der Lohnarbeit hinauszublicken und auch die unentlohnte Sorge- und Hausarbeit in Analyse und Auseinandersetzungen miteinzubeziehen.

Doch während in Deutschland überwiegend über verbindende Praxen debattiert wird, haben die Frauen in Spanien schon einmal im großen Stil vorgelegt. Am 8. März beteiligten sich landesweit über fünf Millionen von ihnen an einem 24-stündigen feministischen Streik. Frauen blieben ihrer Erwerbsarbeit fern, organisierten sich an Universitäten, blockierten Straßen und Verkehrsmittel und ließen die Hausarbeit liegen – kurzum: Sie legten das Land für einen Tag in Teilen lahm und erreichten damit auch die oberste Riege der Politik.

Regierungschef Mariano Rajoy und seine konservative Partei Partido Popular änderten ebenso wie die sie unterstützende neoliberale Partei Ciudadanos inzwischen ihre bisher deutlich ablehnende Haltung. Einer Umfrage der Zeitung »El País« zufolge bekräftigen 82 Prozent, dass es gute Gründe für den Aufstand der Frauen gibt. Deren Eckpfeiler sind eben jene, die auch in Deutschland Frauen betreffen und zum Streiken anregen müssten: Entgeltdiskriminierung, ungleiche Aufteilung der unbezahlten Sorgearbeit und ihre mangelnde Absicherung mit fatalen Folgen für die eigenständige Existenzsicherung und Rente, sexualisierte Belästigung und Gewalt gegen Frauen usw.

Der Frauen*streik in Spanien ist ein historisches, aber kein für sich stehendes Ereignis. Er ist Anlass und Auftakt einer weit darüber hinausgehenden Organisierung und gesellschaftlichen Debatte. Schon in den vergangenen Jahren gab es in Spanien immer wieder feministische Großdemonstrationen – die aus Lateinamerika kommende Inspiration zu einem feministischen Generalstreik fiel deshalb auf fruchtbaren Boden. Und auch jetzt wollen die Organisatorinnen die durch den Streik entstandene Vernetzung dazu nutzen, ihre Forderungen in andere Mobilisierungen – wie etwa der Rentner*innen – hineinzutragen. Es ist also noch lange nicht vorbei.

Auch deshalb nicht, weil es eine Anregung für andere Länder sein kann, zum Beispiel für Deutschland. Sicher: Sowohl die Frauenbewegung als auch die Demonstrations- und Streikkultur sind hierzulande nur schwer mit jener in Spanien zu vergleichen. Die institutionelle Einbindung und damit oftmals auch Einhegung von großen Teilen der Frauenbewegung ist in den vergangenen Jahrzehnten sehr stark vorangeschritten. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir bei den Gewerkschaften. Erst in letzter Zeit wird dies wieder stärker durchbrochen und herausgefordert. Die Debatte um sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz, die Proteste gegen den Paragrafen 219a und die Streiks und die gewerkschaftliche Organisierung im Pflegebereich zeugen davon.

Doch der politische Streik ist in Deutschland verboten. Gemeinhin gilt, dass der Arbeitskampf den falschen Adressaten treffe, wenn sich die politischen Forderungen an den Staat und nicht allein an den Arbeitgeber richten würden. Es gibt aber Interpretations- und Handlungsspielräume. Nicht nur Marxistinnen verweisen darauf, dass Politik und Ökonomie vielfältig miteinander verwoben sind. Außerdem gäbe es eine ökonomisch bedingte Verteilung von Einflussnahmemöglichkeiten auf die politische Willensbildung. Frauen trifft dies in besonderer Weise, da sie durch ihre unentlohnte Arbeit zwar den Bereich der Produktion mit stützen, aber gleichzeitig soziale und ökonomische Abwertung und Ausgrenzung erfahren. Politische Streiks sind auch in Deutschland damit letztlich eine Frage der Legitimität – der Wahl der Mittel im Verhältnis zum Anliegen. Und die liegen auch in Deutschland auf der Straße, im Betrieb, in der Schule, der Küche, der Pflegeeinrichtung. Frauen haben lange genug für mehr Gleichberechtigung und eine Aufwertung ihrer Tätigkeiten verhandelt. Die Zeit ist reif für die nächste Eskalationsstufe.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 25.04.2018

Schwanger werden zu können verbindet

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Wieder hat die SPD einen Rückzieher gemacht: In der Debatte um das Werbeverbot für Abtreibungen fahren die Sozialdemokraten einen Zickzackkurs und sorgten erst am Dienstag für neue Schlagzeilen. Sie wollen nun doch keinen Gesetzentwurf zur Streichung des Paragrafen 219a einbringen. Die Debatte darüber zeigt, wie umkämpft das Thema Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland ist. Das liegt auch daran, dass die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Frauen ungewollte Schwangerschaften beenden können, weit über individuelle Freiheitsrechte hinausgeht. Sie öffnet die Debatte für Themen, die sonst weniger Aufmerksamkeit bekommen.

Mit dem Fall Kristina Hänel hat die Diskussion einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Ärztin wurde verurteilt, weil sie auf ihrer Webseite über die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in ihrer Praxis informierte. Nach Paragraph 219a des Strafgesetzbuches ist das illegal. Angezeigt wurde sie von christlichen Fundamentalist*innen, die seit Jahren zusammen mit autoritären Rechten mobilisieren. Sie veranstalten sogenannte Märsche für das Leben, belästigen Frauen vor Beratungsstellen und Praxen und zeigen Ärzt*innen an, wenn sie über Abbrüche aufklären.

Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Kerstin Wolter arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der LINKE-Ko-Vorsitzenden Katja Kipping und hat das Bündnis für den »Frauen*kampftag« am 8. März mitgegründet. Alex Wischnewski engagiert sich im Netzwerk »Care Revolution«.Breite Bündnisse für sexuelle Selbstbestimmung stellen sich ihnen entgegen und haben so erreicht, dass im Bundestag nun tatsächlich über die Streichung des Paragraphen 219a debattiert wird. Damit öffnet sich ein Möglichkeitsfenster, die Illegalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen insgesamt wieder aufs Tableau zu heben. Eine Situation, wie es sie seit Alice Schwarzers Kampagne »Auch ich habe abgetrieben« 1971 und der Auseinandersetzung über den Paragraphen 218 zu Beginn der 1990er Jahre nicht mehr gegeben hat.

Die Debatte über Abtreibung weist gleichzeitig über sich selbst hinaus. Schauen wir genauer hin, können wir in ihr den »Zusammenhang von Frauenunterdrückung und Produktionsverhältnissen, von Patriarchat, Kultur, Ideologie, Staat und Kapital, Privatem und Politischem« (Frigga Haug) erkennen. Die Regulierung von Abtreibungen stellt all dies in einem Brennglas dar.

So führt sie direkt zur Frage staatlicher Bevölkerungspolitik. Welchen Einfluss hat diese auf Fortpflanzung? Wer entscheidet über den Frauenkörper? Ehemann? Staat? Kirche? Wie groß ist der Einfluss der Religion auf staatliche Entscheidungen? Schließlich lehnt die katholische Kirche Abtreibungen als Sünde ab. Die evangelische Kirche dagegen akzeptiert Abtreibungen nur, wenn die körperliche oder seelische Gesundheit der Frau gefährdet ist.

Dabei haben Frauen schon immer abgetrieben, wenn es notwendig war. Nur leider viel zu oft illegalisiert unter lebens- oder zumindest gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Es geht also auch um die Frage von Gesetzen und Justiz und um ein demokratisches und soziales Gesundheitssystem.

Der Kampf um die Streichung der Paragraphen 218 ff. hat daher in doppelter Weise enormes Potenzial. Zum einen können darüber zahlreiche Aspekte kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse in Frage gestellt werden. Zum anderen bietet der Kampf um sexuelle Selbstbestimmung die Möglichkeit für breite Mobilisierungen. Denn schwanger werden zu können, betrifft sehr viele Frauen und verbindet sie über sonstige Spaltungen und Weltanschauungen hinweg. Genau deshalb geht es aber auch darum, die Einsichten über die Zusammenhänge in gemeinsamen Kämpfen praktisch werden zu lassen.

Ein herausgehobenes Beispiel für solch eine Verbindung in der Praxis ist die aus den USA kommende Auseinandersetzung über »reproduktive Gerechtigkeit« (»reproductive justice«). Von schwarzen Frauen vorangebracht, bringt der Begriff sexuelle Selbstbestimmung, reproduktive – also mit der Fortpflanzung verbundene – Rechte und soziale Gerechtigkeit zusammen. Er weist darauf hin, dass für viele Frauen das Recht, Kinder zu bekommen und aufzuziehen, ebenso wenig eingelöst wird wie das Recht, ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Ja, es sogar leichter erscheinen mag, ein Kind nicht zu kriegen, als es unter Bedingungen sozialer Marginalisierung großzuziehen.

Unter der Klammer der reproduktiven Gerechtigkeit könnten sich auch in Deutschland die Kämpfe für die Abschaffung des Paragraphen 218 mit Auseinandersetzungen verbinden, die bisher keine vergleichbare Lobby haben. So etwa der Streit um die Zwangssterilisation von Frauen mit Behinderungen. 2015 betraf das noch immer 26 Frauen, von denen viele mit entsprechender Unterstützung sicherlich Kinder großziehen könnten.

Selbst der Fachausschuss der Vereinten Nationen hat Deutschland deshalb bereits aufgefordert, den zugrundeliegenden Paragraphen 1905 des Bürgerlichen Gesetzbuches ersatzlos zu streichen. Hier fehlt es aber noch an gesellschaftlichem Druck auf den Gesetzgeber.

Eine andere Auseinandersetzung ist die Forderung nach dem gleichberechtigten Zugang von lesbischen und alleinstehenden Frauen zu reproduktiver Medizin. Wenn wir von reproduktiver Gerechtigkeit sprechen, gehört dazu auch die unter Kostendruck weichende Versorgung mit Hebammen und Geburtsstationen, was ein selbstbestimmtes Gebären immer unsicherer macht. Und obwohl von Regierungsseite stets die Unterstützung von Familien und Kindern beschworen wird, gibt es eine deutliche soziale Schieflage. Knapp ein Fünftel aller Kinder sind von Armut betroffen. Während der Kinderfreibetrag besonders gut verdienenden Paaren zugutekommt, wird das Kindergeld von Hartz IV abgezogen und erfahren Alleinerziehende zu wenig gesellschaftliche Unterstützung.

Der Begriff der reproduktiven Gerechtigkeit ist sehr hilfreich, all diese Kämpfe in einer Vision zu verbinden. Er verdeutlicht, dass unterschiedliche Betroffenheiten auch etwas Gemeinsames haben. Einzelne Akteur*innen reden bereits darüber, es fehlt jedoch noch an praktischer Bündnisarbeit. Das Recht auf freie Information über Schwangerschaftsabbrüche, um das derzeit gestritten wird, ist trotz der Entscheidung der SPD, möglicherweise erst der Anfang. Die Abtreibungsgegner*innen hätten sich mit ihren Anzeigen so am Ende noch ins eigene Fleisch geschnitten.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 14.03.2018

Immer muss man alles selber machen

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Die vielfachen Krisen des letzten Jahrzehnts gebären ihre Kinder. In der Krise des Politischen vermögen altbewährte Formen nicht mehr zu überzeugen und neue Akteure entstehen. Dies geschieht nicht ohne Aufbegehren, ohne hitzig geführte Richtungsdebatten und daraus abgeleitete Rufe nach Erneuerungsprozessen oder gar Neugründungen (wenn das Ringen um Meinungsführerschaft sonst einfach zu lang dauert). Interessant ist, dass in den aktuellen Krisen und Auseinandersetzungen, es eine Gruppe in besonderer Weise schafft, diesen Kampf aufzunehmen und in einer nie dagewesenen Stärke zu führen: die Frauen. Warum ist das so?

Die auferstandenen und neuen rechten Kräfte haben es in dieser Situation geschafft, mit Debatten über Tradition, Werte und Kultur die Agenda zu bestimmen. (Um-)Verteilungsfragen werden durch eine Politik der Identitäten beantwortet. Diese Politik geht mit der Abgrenzung zu einem als fremd beschriebenen Außen und der Beschwörung eines eigenen, homogenen Volkes einher. In den Fokus rückt damit die Familie als Keimzelle dieses Volkes, die gegen die abgehobenen Genderwahn-Truppen der neoliberalen Eliten und die staatlichen Institutionen der links-grün-versifften 68er-Nachfolger verteidigt werden muss. Hinzu kommen rassistische Hetzjagden unter der Anrufung von Frauenrechten, von denen aktuell die 120db-Kampagne oder der sogenannte »Frauenmarsch« am 17. Februar in Berlin zeugen.

Angesichts dieser aktuell relativ erfolgreichen Erzählung von rechts Außen, springen Akteure aller Couleur über das hingehaltene Stöckchen. Ob Alexander Dobrindts (CSU) Anrufung einer »konservativen Revolution der Bürger« gegen die Meinungsherrschaft einer linken Minderheit oder Sigmar Gabriels (SPD) Sehnsucht nach »Heimat« und »Leitkultur«. Sahra Wagenknecht (LINKE) versucht sich vom Diktum bürgerlicher Parteien abzugrenzen, indem sie eine Rückwendung von Identitätspolitik zur sozialen Frage proklamiert. Die Antworten sind also jeweils andere, die von rechts aufgeworfenen Fragen aber bleiben Bezugspunkt. Was den weit größten Teil der öffentlichen Diskussion angeht, können wir aktuell tatsächlich von einer Art »Kulturkampf« sprechen.

Frauen auf der ganzen Welt haben diesen Kampf wie selbstverständlich aufgenommen und setzen damit dem rechten Diskurs die progressive Idee einer freien und gleichen Gesellschaft entgegen. Ihre Kämpfe haben sich bereits in der proletarischen Frauenbewegung im Spannungsfeld von Kultur- (Frauenwahlrecht, Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, Recht auf Bildung, Erleichterung von Scheidungen) und ökonomischen Kämpfen (Gleicher Lohn für gleiche Arbeit) bewegt.

In den aktuellen Debatten werden diese Verbindungen bewusst und unbewusst getrennt. Es ist kein Zufall, welche feministischen Bewegungen breite Aufmerksamkeit genießen: In Deutschland setzte die »Nein heißt Nein«-Reform, die das Selbstbestimmungsrecht ins Sexualstrafrecht einführte, bei aller Widersprüchlichkeit immense Mobilisierungspotentiale frei. Die »women’s marches« in Reaktion auf den Amtsantritt von Donald Trump waren die historisch größten Proteste in den USA und stießen auch in Deutschland auf Resonanz (die Wissenschaftlerin Erica Chenoweth an der University of Denver zählte am Wochenende der Amtseinführung Trumps zwischen 1,6 bis 2,5 Millionen Menschen, die sich an Protestaktionen in den USA beteiligten). Nur einen Monat später gingen allein in Berlin rund 10.000 Menschen zum Frauen*kampftag auf die Straße. Die aktuelle Debatte über Schwangerschaftsabbrüche knüpft an erfolgreiche Proteste in Polen und Spanien an. Und nicht zuletzt findet die Kampagne #metoo, die auf sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz aufmerksam machte, in Deutschland eine unvergleichbare Welle an Unterstützung. In Deutschland sind die Größenordnungen feministischer Kämpfe durchaus kleiner. Jedoch sind auch hierzulande feministische Kämpfe überproportional stark am Wachsen.

All diese feministischen Kämpfe finden auf dem Terrain des Kulturkampfes statt. Genau darüber schaffen sie es, ihre Breite zu entfalten. So begründete das »Time«-Magazin die Wahl der #metoo-Bewegung zur »Person des Jahres« mit der besonders schnellen kulturellen Veränderung, die sie nach sich zog. Was leider in der Debatte um #metoo in den Hintergrund gerät oder bewusst verschwiegen wird, sind die ökonomischen Veränderungen, die es braucht, damit die Kämpfe um Anerkennung und gegen sexuellen Missbrauch tatsächlich und nachhaltig Wirkung zeigen. Noch immer ein Schattendasein spielen feministische Debatten und Kämpfe um gute Pflege und Kinderbetreuung, um Minijobs und Rente. Das ist aber weder die »Schuld« der #metoo-Feministinnen, noch muss es so bleiben.

Sicherlich, vielen Feministinnen, die sich durch Kampagnen wie #metoo oder schon früher #aufschrei, angesprochen fühlten, liegt die Überwindung des Kapitalismus (noch) nicht am Herzen. Dennoch wäre es falsch sie zu ignorieren oder unsere Kraft darauf zu konzentrieren, sie zu bekämpfen. Vielmehr profitieren auch materialistisch argumentierende Feministinnen von einer Verständigung über feministische Differenzen hinweg. Durch den allgemeinen Auftrieb feministischer Forderungen können auch sie sichtbarer werden und Stärke für die eigenen weitergehenden Auseinandersetzungen ziehen. So begleitete Ai-jen Poo, die Direktorin der National Domestic Workers Alliance, die sich für die Rechte von Haushälterinnen, Pflegerinnen und Kindermädchen einsetzt, die Schauspielerin und Millionärin Meryl Streep zu der Verleihung der Golden Globes. Die marxistische Intellektuelle Angela Davis sprach auf dem Women’s March, zu dem selbst Hillary Clinton aufrief. Wobei Letztere jedoch zu jenen, bisher nicht be-, aber stets selbsternannten, »Feministinnen« gehört, deren neoliberale und militaristische Politik Angriffspunkt für jede linke Feministin ist. Aber ist es deshalb falsch, wenn sie Donald Trump für seine sexistischen Ausfälle kritisiert? Natürlich sind politische Auseinandersetzungen innerhalb feministischer Bewegungen essentiell. Aber sie stehen dabei in Spannung und Widerspruch mit einer feministischen und Frauen*solidarität, angesichts der Aufgaben, die uns noch bevorstehen.

Als Linke müssen wir den Kulturkampf von links aufnehmen und von Anfang mit materiellen Fragen verbinden. Also beispielsweise auf Fragen von Familien-, Geschlechter- und auch Migrationspolitik progressive Antworten geben und gleichzeitig die soziale Lage der Menschen verbessern. Als materialistisch denkende und handelnde Feministinnen warten und hoffen wir nicht auf Bewegungen wie #metoo, die kometenhaft aufsteigen und womöglich schon bald wieder verglühen. Aber jetzt ist diese Bewegung da. In Deutschland strukturiert der »Kulturkampf« die aktuelle Debatte vor. Wenn wir weiterkommen wollen, müssen wir uns darauf einstellen.

Zuerst veröffentlicht in der Zeitung neues deutschland, 15.02.2018

Vorwärts: Wir brauchen eine Politik für morgen

Vorschläge für eine linke Politik, die die neue Arbeiter*innenklasse mitnimmt. Eine Antwort auf Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke.

Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski

Die LINKE soll sich zur Arbeiterklasse hinwenden, fordern deren Abgeordnete Wolfgang Gehrcke und Diether Dehm in ihrem Kommentar »Ohne Rot-Rot gelingt kein Rosa-Rot-Grün[1]«. Das finden wir richtig – und gleichzeitig viel zu wenig. »Wen meint das neue Feindbild aus ‘alten weißen Männern’«, fragen sie. Wenn der Kommentar eines klar macht: Euch zum Beispiel, liebe Genossen!

Denn die Kritik am »alten, weißen Mann« richtet sich nicht etwa gegen »Geburt und Pigmentstatus«. Was der Begriff zu recht kritisiert, ist ein Politikverständnis, dass bei (alten) weißen Männern anfängt – und aufhört. Gehrcke und Dehm lassen so vor allem einen Begriff schmerzlich vermissen: Solidarität. Die Verbundenheit mit anderen Kämpfen auf Grundlage eines Gemeinsamen. Ist es nicht unser Ziel, »alle Verhältnisse umzuwerfen« – man beachte: ALLE -, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«? Marxistisch-feministische, queere und intersektionale Ansätze und Praxen zeigen hier vorwärts, denn sie denken Differenz und Gleichheit zusammen. Erfahrung und Erkenntnis müssen zudem Hand in Hand gehen mit gemeinsamen Kämpfen. Aber wie?

Wer ist die Arbeiter_innenklasse?

Auch Gehrcke und Dehm sehen, dass die Auseinandersetzung mit Ausländerfeindlichkeit und Sexismus in sozialen Kämpfen kein Selbstläufer ist. Mehr kommt leider nicht. Wir finden, Aufgabe einer Linken muss es sein, die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit mit den Kämpfen um Geschlechtergerechtigkeit, den Rechten von Homosexuellen und Transpersonen sowie Antirassismus konsequent zu verbinden. Nur so knüpfen wir an die alltäglichen Erfahrungen der Menschen an.

Denn die Arbeiter_innenklasse besteht schon lange nicht mehr nur aus Blaumänner tragenden Automechanikern. Der Pflegesektor hat die Automobilbranche an Jobs längst überholt. Die Arbeiter_innenklasse ist zunehmend weiblich, migrantisch geprägt und prekär. Sexismus und Rassismus drücken sich auch auf dem Lohnzettel aus.

Missachtet man das, so wie Gehrcke und Dehm, dann geht das imaginierte Mehr an Glück sehr schnell auf die Kosten marginalisierter Gruppen, dann verwischen die Grenzen zu Standortnationalismus und Wohlstandschauvinismus. Solidarität ist deshalb kein »kreatives Korbflechten von Minderheitsthemen«, wie die Verfasser behaupten. Sie ist die Voraussetzung moderner, linker Politik und der Grundstein eines starken Sozialstaates, der unterschiedliche Lebensformen anerkennt und absichert. Ein für uns zentrales Politikfeld für DIE LINKE ist dabei auch die Umverteilung von Erwerbs- sowie Sorgearbeit und Zeit. Noch immer sind es vor allem Frauen, die für ihre Arbeit geringer entlohnt werden, die länger arbeiten und doch den Großteil der unbezahlten Hausarbeit übernehmen. Die LINKE könnte in diesen Fragen zusammen mit den fortschrittlichen Teilen der Gewerkschaften eine Vorreiterrolle übernehmen.

Von Spaltung, Stimmung und Sanders

Gehrcke und Dehm bemühen eine Gegenüberstellung von Straße und Redner_innenpult. Das ist irreführend. Die Trumps, Le Pens und Petrys dieser Welt schüren gesellschaftliche Stimmungen und verschieben den Raum des Sag- und Machbaren. Die massiven Angriffe auf Migrant_innen in den letzten Tagen in den USA geben Zeugnis davon. Das Sein bestimmt eben nicht nur das Bewusstsein, sondern das Bewusstsein auch das Sein. Eine linke Rhetorik kann eine andere Stimmung begünstigen, die auf Solidarität und Menschenrechte statt auf Rassismus und Antifeminismus setzt.

Bernie Sanders hat es vorgemacht. Vermutlich hätte er sich deswegen gegen Trump durchgesetzt. Denn Sanders hat gleichzeitig ein kostenloses Studium sowie einen Mindestlohn von 15 US-Dollar gefordert, reproduktive Rechte verteidigt und die »Black lives matter«-Bewegung unterstützt. Er wollte die gespaltene Arbeiter_innenklasse zusammenführen, statt sie gegeneinander auszuspielen. Anders als das neoliberale Angebot Clintons, die die Spaltung mit etwas humanerem Antlitz personifizierte. Es geht eben um die Politik und nicht um »Geburt und Pigmentstatus«.

Gehrcke und Dehm können und wollen diese Gleichzeitigkeit aber nicht denken und so verirren sie sich in einer wirklichkeitsfremden Gegenüberstellung von »Kämpfen ‘von unten’« und »politisch correcte[r] Bevormundung«. Als hätte jemand behauptet, dass der Unterstrich die Welt verändert. Als würden linke Frauen deshalb nicht mehr für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit streiten. Fast schon fühlt man sich erinnert an den Feldzug gegen Genderismus von AfD, besorgten Eltern und Co. Ein Spiel mit der Verwechslungsgefahr, das nicht nur falsch ist, sondern auch unnötig, um die Arbeiter_innenklasse für sich zu gewinnen.

Die Arbeiter_innenklasse erreichen

Warum sollte soziale Gerechtigkeit, die feministische und anti-rassistische Anliegen einschließt, die »Vorstellungskraft der zu Mobilisierenden überstrapazieren«? Diskriminierungserfahrungen und Belästigungen sind keine Frage der sozialen Schicht oder Schulbildung. Die von beiden erwähnte Jenna Behrends von der CDU ist dafür ein gutes Beispiel. Hat sie sich doch gerade nicht über den Sexismus der »Bildungsferne[n]« beklagt, sondern über den Sexismus in den eigenen, oberen Reihen.

Statt falscher Beispiele und alter Gewissheiten sollte DIE LINKE darüber nachdenken, wie sie die neue Arbeiter_innenklasse erreicht. DIE LINKE steht hierbei vor der großen Herausforderung, 1. eine Sprache zu sprechen, die von allen verstanden wird, 2. die großen und kleinen Probleme verschiedener Milieus ernst zu nehmen und 3. dabei die verschiedenen Ebenen von kulturellen und sozialen Kämpfen miteinander zu verbinden. Politik von weißen alten Männern und für sie, wie Gehrcke und Dehm sie vorschlagen, ist von gestern. Wir brauchen eine Politik für morgen.