Vorwärts: Wir brauchen eine Politik für morgen
Vorschläge für eine linke Politik, die die neue Arbeiter*innenklasse mitnimmt. Eine Antwort auf Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke.
Von Kerstin Wolter und Alex Wischnewski
Die LINKE soll sich zur Arbeiterklasse hinwenden, fordern deren Abgeordnete Wolfgang Gehrcke und Diether Dehm in ihrem Kommentar »Ohne Rot-Rot gelingt kein Rosa-Rot-Grün[1]«. Das finden wir richtig – und gleichzeitig viel zu wenig. »Wen meint das neue Feindbild aus ‘alten weißen Männern’«, fragen sie. Wenn der Kommentar eines klar macht: Euch zum Beispiel, liebe Genossen!
Denn die Kritik am »alten, weißen Mann« richtet sich nicht etwa gegen »Geburt und Pigmentstatus«. Was der Begriff zu recht kritisiert, ist ein Politikverständnis, dass bei (alten) weißen Männern anfängt – und aufhört. Gehrcke und Dehm lassen so vor allem einen Begriff schmerzlich vermissen: Solidarität. Die Verbundenheit mit anderen Kämpfen auf Grundlage eines Gemeinsamen. Ist es nicht unser Ziel, »alle Verhältnisse umzuwerfen« – man beachte: ALLE -, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«? Marxistisch-feministische, queere und intersektionale Ansätze und Praxen zeigen hier vorwärts, denn sie denken Differenz und Gleichheit zusammen. Erfahrung und Erkenntnis müssen zudem Hand in Hand gehen mit gemeinsamen Kämpfen. Aber wie?
Wer ist die Arbeiter_innenklasse?
Auch Gehrcke und Dehm sehen, dass die Auseinandersetzung mit Ausländerfeindlichkeit und Sexismus in sozialen Kämpfen kein Selbstläufer ist. Mehr kommt leider nicht. Wir finden, Aufgabe einer Linken muss es sein, die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit mit den Kämpfen um Geschlechtergerechtigkeit, den Rechten von Homosexuellen und Transpersonen sowie Antirassismus konsequent zu verbinden. Nur so knüpfen wir an die alltäglichen Erfahrungen der Menschen an.
Denn die Arbeiter_innenklasse besteht schon lange nicht mehr nur aus Blaumänner tragenden Automechanikern. Der Pflegesektor hat die Automobilbranche an Jobs längst überholt. Die Arbeiter_innenklasse ist zunehmend weiblich, migrantisch geprägt und prekär. Sexismus und Rassismus drücken sich auch auf dem Lohnzettel aus.
Missachtet man das, so wie Gehrcke und Dehm, dann geht das imaginierte Mehr an Glück sehr schnell auf die Kosten marginalisierter Gruppen, dann verwischen die Grenzen zu Standortnationalismus und Wohlstandschauvinismus. Solidarität ist deshalb kein »kreatives Korbflechten von Minderheitsthemen«, wie die Verfasser behaupten. Sie ist die Voraussetzung moderner, linker Politik und der Grundstein eines starken Sozialstaates, der unterschiedliche Lebensformen anerkennt und absichert. Ein für uns zentrales Politikfeld für DIE LINKE ist dabei auch die Umverteilung von Erwerbs- sowie Sorgearbeit und Zeit. Noch immer sind es vor allem Frauen, die für ihre Arbeit geringer entlohnt werden, die länger arbeiten und doch den Großteil der unbezahlten Hausarbeit übernehmen. Die LINKE könnte in diesen Fragen zusammen mit den fortschrittlichen Teilen der Gewerkschaften eine Vorreiterrolle übernehmen.
Von Spaltung, Stimmung und Sanders
Gehrcke und Dehm bemühen eine Gegenüberstellung von Straße und Redner_innenpult. Das ist irreführend. Die Trumps, Le Pens und Petrys dieser Welt schüren gesellschaftliche Stimmungen und verschieben den Raum des Sag- und Machbaren. Die massiven Angriffe auf Migrant_innen in den letzten Tagen in den USA geben Zeugnis davon. Das Sein bestimmt eben nicht nur das Bewusstsein, sondern das Bewusstsein auch das Sein. Eine linke Rhetorik kann eine andere Stimmung begünstigen, die auf Solidarität und Menschenrechte statt auf Rassismus und Antifeminismus setzt.
Bernie Sanders hat es vorgemacht. Vermutlich hätte er sich deswegen gegen Trump durchgesetzt. Denn Sanders hat gleichzeitig ein kostenloses Studium sowie einen Mindestlohn von 15 US-Dollar gefordert, reproduktive Rechte verteidigt und die »Black lives matter«-Bewegung unterstützt. Er wollte die gespaltene Arbeiter_innenklasse zusammenführen, statt sie gegeneinander auszuspielen. Anders als das neoliberale Angebot Clintons, die die Spaltung mit etwas humanerem Antlitz personifizierte. Es geht eben um die Politik und nicht um »Geburt und Pigmentstatus«.
Gehrcke und Dehm können und wollen diese Gleichzeitigkeit aber nicht denken und so verirren sie sich in einer wirklichkeitsfremden Gegenüberstellung von »Kämpfen ‘von unten’« und »politisch correcte[r] Bevormundung«. Als hätte jemand behauptet, dass der Unterstrich die Welt verändert. Als würden linke Frauen deshalb nicht mehr für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit streiten. Fast schon fühlt man sich erinnert an den Feldzug gegen Genderismus von AfD, besorgten Eltern und Co. Ein Spiel mit der Verwechslungsgefahr, das nicht nur falsch ist, sondern auch unnötig, um die Arbeiter_innenklasse für sich zu gewinnen.
Die Arbeiter_innenklasse erreichen
Warum sollte soziale Gerechtigkeit, die feministische und anti-rassistische Anliegen einschließt, die »Vorstellungskraft der zu Mobilisierenden überstrapazieren«? Diskriminierungserfahrungen und Belästigungen sind keine Frage der sozialen Schicht oder Schulbildung. Die von beiden erwähnte Jenna Behrends von der CDU ist dafür ein gutes Beispiel. Hat sie sich doch gerade nicht über den Sexismus der »Bildungsferne[n]« beklagt, sondern über den Sexismus in den eigenen, oberen Reihen.
Statt falscher Beispiele und alter Gewissheiten sollte DIE LINKE darüber nachdenken, wie sie die neue Arbeiter_innenklasse erreicht. DIE LINKE steht hierbei vor der großen Herausforderung, 1. eine Sprache zu sprechen, die von allen verstanden wird, 2. die großen und kleinen Probleme verschiedener Milieus ernst zu nehmen und 3. dabei die verschiedenen Ebenen von kulturellen und sozialen Kämpfen miteinander zu verbinden. Politik von weißen alten Männern und für sie, wie Gehrcke und Dehm sie vorschlagen, ist von gestern. Wir brauchen eine Politik für morgen.